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Kultur: Roman als Wende

Lesung von Christine Anlauff bei Wist in Potsdam: Von der Hausbesetzerin zur Schriftstellerin

Lesung von Christine Anlauff bei Wist in Potsdam: Von der Hausbesetzerin zur Schriftstellerin Was selbst den Nobelpreisträgern Toni Morrison und Imre Kertész nicht ganz gelang, schaffte die Potsdamer Autorin Christine Anlauff mit Leichtigkeit. Am Donnerstag zu der Premieren-Lesung aus ihrem erst vor zwei Tagen ausgelieferten Roman „Good Morning, Lehnitz“ mussten etliche Literaturfreunde auf eine spätere Wiederholung vertröstet werden. Im oberen Geschoss der Literaturhandlung Wist saßen und standen dicht gedrängt wohl mehr als 60 Freunde und Interessierte, nahmen sogar den Platz auf Simsen in Kauf, kauerten auf der Erde und hörten alle hoch amüsiert zu. Die literarische Debütantin, die alle nur „Tini“ nennen, hatte ein klares Heimspiel. Als ehemalige Hausbesetzerin der Kurfürstenstraße, als engagierte Kiezladenkraft in Potsdam-West und als Abiturientin in dem „magischen“ Jahr 1990 auf dem NVA-Gelände in Lehnitz/Brandenburg kann die vierfache Mutter auf einen großen und fröhlich gestimmten Bekanntenkreis zählen. Sie selbst äußerte sich überrascht, dass auch ihr fremde Gesichter den Weg in die Brandenburger Straße gefunden hatten. „So ist die Tini“, raunte ein Zuhörer voller Bewunderung dieser Bescheidenheit. Was denn schwieriger wäre, wollte Literaturladenchef Wist von der Jungautorin wissen, Kinder zu kriegen oder einen Roman zu schreiben? Tini, in ihrer vom hiesigen Idiom geprägten, frechfreundlichen Antwort: „Buch schreiben dauert auf jeden Fall länger, macht hinterher aber viel weniger Arbeit.“ Anlauff, und das grenzt eigentlich schon an ein Wunder, hatte den Text eigentlich gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Sie wollte nur, wie sie im Gespräch erläuterte, die Erinnerungen an ein spannendes Jahr in einer merkwürdigen Umgebung für ihren Lebensgefährten festhalten. Worum geht es? Die Heldin Tilli kommt im Wendejahr auf ein abgelegenes Armee-Gelände, um mit einer bunten Gruppe dort im Internat zu wohnen und ihr Abitur zu absolvieren. Nein, warnt Christine Anlauff vor voreiligen Schlüssen, sicher lägen eigene Erfahrungen aus der Abi-Zeit zugrunde, die Figuren, auch die kleinwüchsige, bleiche, Brille tragende Protagonistin, entsprächen allerdings höchstens zu 60 Prozent der Realität. Ausreichend groß war der nicht-fiktive Anteil der flott erzählten Geschichte anscheinend für die Zuhörer, um das eine oder andere Detail, so den merkwürdigen Direktor, Klassenlehrerin Frau Michel oder der Mathelehrer Herr Kegler, wieder zu erkennen. Die Geschichte der schüchternen Tilli gewinnt rasant an Fahrt, als sie sich in Christian verliebt, den Klassenprimus. An dieser Stelle stockt die Autorin, denn „derjenige ist hier im Raum." Anlauffs Story fand Dank ihrer Agentin und dem Verlag Kiepenheuer ohne Umwege und in kürzester Zeit zwischen zwei Buchdeckel. Eine vergnügliche Lektüre, pointierte Beobachtungen, rasches Tempo, also Eigenschaften, die eher in der anglo-amerikanischen Tradition stehen, zeichnen die Geschichte aus. Diskutiert wurde nach dem Vortrag, ob es sich nun um einen „Wenderoman“ handele. „Sicher“, sagte der Vertreter des Verlages, „denn die Wende besteht ja aus 15 Millionen einzelner Geschichten über dieses Jahr 1990. Aus denen zusammen wird dann erst die große ,Geschichte“.“ Anlauff lässt ihre Figuren lernen, lieben und scherzen, aber nur vereinzelt an den immensen Umwälzungen um sie herum im Lande Anteil nehmen. Ein „Unterhaltungsding“ sollte es werden, bestimmte die Autorin, „und kein Wenderoman.“ Das kurzweilige und leicht fließende Debüt lässt vermuten, dass zumindest Christine Anlauff eine unumkehrbare Wende hin zu einer professionellen Schriftstellerin gelungen ist. Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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