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Kultur: Troerinnen ohne Helena

Unidram mit „Frauen in Zeiten des Krieges“ nach Euripides in der Russenhalle eröffnet

Unidram mit „Frauen in Zeiten des Krieges“ nach Euripides in der Russenhalle eröffnet Alle künstlerische Moderne beginnt mit dem Unglauben. Noch bevor ministerielle, städtische und universitäre Reden am Donnerstag den 12. Unidram-Jahrgang eröffnen konnten – man glaubt fest an seine Zukunft als eines der wichtigsten Off-Theatertreffen in Europa – war in der Russenhalle folgende Sentenz zu lesen: „Erzähle keinen Unsinn, sagte Priamos. Es gibt gar keine Helena. Sie wollen unser Geld und freien Zugang zu den Dardanellen“. Besagter Priamos war bis zur Zerstörung Trojas durch die Griechen König dieser sagenhaften Gegend. Anlass des Krieges war die Entführung der nichtexistierenden Menelaos-Gattin durch den Städtegründer Páris. Troja wurde durch die List Odysseus“ erobert, zerstört, die Überlebenden in die Sklaverei der hochzivilisierten Sieger geführt. Wie es nun Priamos“ Gattin Hekuba, der Seherin Kassandra, Polixena und den anderen aus Ilion erging, schildert Euripides mit tiefem Sprachgefühl in seinen „Troerinnen“. Berichte solchen Kalibers gehören bekanntlich zum festen Urgrund der Kultur Europas. Der sizilianische Regisseur Claudio Collovà glaubt nun aber weder an die Existenz von Helena als „schönstem Weibe der Welt“, noch dem überlieferten Text. Was er unter dem Titel „Donne in tempo di Guerra“ (Frauen in Zeiten des Krieges) mit dem britischen Bühnenbildner Andrew Walsh und der Compagnia Vocolo Corto (Ancona/Italien) adaptierte – und Unidram damit eine rezeptionsintensive Eröffnung bescherte – misstraut dem Wort als Ausdruck aller Schrecken, sogar dem Vorspiel des Dramas, wonach all dieses Elend auf Ratschluss von Daimon Poseidon und der Athene geschah. Denkt man sich „Faust“ ohne den Prolog im Himmel vor, so träfe es diese Lesart. Das Publikum ward also vor die Aufgabe gestellt, aus opulenten Bildern und exzessiver Körpersprache zu ergründen, was Euripides gesagt und Collovà mit seiner Schauspiel-Choreographie meinte. Gar nicht so leicht, wenn man den Stoff nicht kennt. Ein Mann im modernen Anzug trat unbenannt als Impressario auf, ihm gegenüber sieben Frauen archaischer Kostüme, grau versteinerte Gesichter, einigen war der Name auf die Brust, eine Nummer in den Arm geätzt. Aus ihrer Massenstarre langsam erwachend, kamen sie mit erhobenen Händen auf das Publikum zu. Zeitlupengesten, Umfallen, viel Solidarität – der Regisseur hätte bei seinem Landsmann Primo Levi nachlesen können, wie anders sich eine Gruppe in Not verhält. Ein scharfes Geräusch aus dem Lautsprecher messa di voce, wie Mumien gebündelte Leichen, darunter auch die des Priamos. Hekuba reagiert, aber wer von ihrer „Königsebene“ nicht weiß, nimmt“s einfach menschlich. Man küsst sich die Lippen an den Toten wund, hört aus den eingegrabenen Amphoren (tolle Bühne) auf die Stimmen der Toten, bröselt Brot, um danach auf dasselbe zu urinieren. Hilfeflehen zum Parkett. Euripides schilderte das Elend der „Troades“ (415 v. Chr.) durch Einzelschicksale pars pro toto, hier aber bleibt die Gruppe weitgehend homogen und amorph. Es brauchte keiner zwei Stunden, sämtliche Schrecknisse für sich abzuhaken – wo vieles so stumm erzählt wird, ist wenig erzählt. Starke Darstellerleistungen, schöne Einfälle viel Applaus. Das Beste an diesem Abend bleibt die rezipierbare Differenz zwischen antikem Maß und dem Blick der Moderne, das Misstrauen der Heutigen gegen die Kräfte der Alten, ihr Unglaube eben. Gerold Paul

Gerold Paul

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