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Kultur: Von der Not der freien Entscheidung

Ibsens „Frau vom Meer“ ab heute im T–Werk

Ibsens „Frau vom Meer“ ab heute im T–Werk Matthias Stier ist Regisseur und Produzent in einem. Nach Jahren der „Wanderschaft“ und zahlreichen Arbeiten an Theatern in Dresden, Freiberg, Köln und Rudolstadt kehrt der Potsdamer nun in seine Heimat zurück und wagt sich hier an seine erste freie Inszenierung – nahezu ohne finanzielle Mittel, dafür aber mit einer hochmotivierten Truppe freischaffender Schauspieler und viel technischer Unterstützung vom T-Werk und dem Hans Otto Theater. Für Matthias Stier ist die Rückkehr zu den eigenen Wurzeln zugleich ein Neubeginn. Entscheidungen sind getroffen, die Gedanken ordnen sich, ähnlich wie in dem von ihm gewählten Stück: Henrik Ibsen „Frau vom Meer". Das Bühnenbild ist karg und klar wie die nordische Landschaft. Die fühlenden Personen stehen im Mittelpunkt, nichts soll ablenken von ihrem sinnlichen Spiel. Da ist Ellida, die „Frau vom Meer“, Tochter eines Leuchtturmwärters, die in zweiter Ehe mit dem Arzt Wangel in der bergigen Idylle an einem Fjord zusammenlebt. Doch Ellida, gespielt von Alexandra Röhrer, kann nicht glücklich sein. Geplagt von einer seltsamen Sehnsucht nach dem Meer, der Weite und einer früheren Liebe, flüchtet sie in Traumwelten. Es sind die Erinnerungen an jenen geheimnisvollen Fremden, dem sie sich in ihrer Leidenschaft für die See verbunden fühlte. Mit ihm ließ sich reden über Stürme und Flauten, Wale und Delphine, die Mittagswärme draußen auf den Schären. Seit dem Fortgang dieses Mannes, dem sie sich völlig wehrlos hingegeben hätte, überkam sie die Schwermut. Dieser lähmende Zustand, nicht richtig leben, nichts mehr tief empfinden zu können, bricht auf, als der tot geglaubte Geliebte nach Jahren plötzlich wieder auftaucht und sie bittet, mit ihm zu kommen. Freiwillig! Doch so sehr sich Ellida nach dem Meer sehnte, so sehr scheute sie in den Jahren ihrer Ehe mit Wangel das Ufer und den Blick ins Offene. Tatsächlich war es die Angst davor, eine eigene Entscheidung zu fällen und selbst dafür Verantwortung übernehmen zu müssen. Für Matthias Stier liegt hier der zentrale Konflikt und auch das Bindeglied zwischen Ibsens 1888 geschriebenen Theaterstück und der Gegenwart. Im Unverbindlichen und Oberflächlichen manch zwischenmenschlicher Beziehung erkennt Stier die Unfähigkeit, ehrlich sich selbst und anderen gegenüber zu sein, an sich zu arbeiten und Verantwortung für eine Liebe zu übernehmen. Oft, so der Regisseur, fehle eben auch heute die Bereitschaft zu tiefer gehender Verständigung. Ibsen beendet in seinem Stück dieses Schweigen. Die Eheleute sprechen sich aus, fangen an, einander wirklich zu verstehen: „Deine Sehnsucht und dein Verlangen nach dem Meer, dieses Sehnen nach ihm, nach dem fremden Mann, das ist Ausdruck eines erwachenden und wachsenden Wunsches nach Freiheit in dir gewesen", begreift Wangel. So gibt er Ellida schließlich die Freiheit, sich zu entscheiden und zwingt sie damit zur Auseinandersetzung mit sich selbst, mit ihrer Ehe und ihren frühen, teils kindlichen Sehnsüchten. Für die „Frau vom Meer“ wird dies ein Abschied, dem ein Anfang innewohnt. Die Züge des modernen Frauenbildes, die Ibsen am Ende des 19. Jahrhunderts zeichnet, sind für Matthias Stier bis heute nachvollziehbar. Mehr noch erkennt er im Konflikterleben Ellidas etwas, was nun für beide Geschlechter gleichermaßen gilt: sich frei entscheiden zu können, mit dieser Freiheit aber auch verantwortungsvoll umzugehen und die Selbstbestimmtheit nicht mit Egoismus zu verwechseln. Heute Abend hat die „Frau vom Meer“ im T-Werk Premiere. Läuft alles gut, will die Theatertruppe, die sich den Namen Kunst-off gegeben hat, mit dem Stück auf Tournee gehen. Antje Horn-Conrad T-Werk, Schiffbauergasse, Fr 23.9. bis So 25.9., 20 Uhr, Tel.: (0331) 71 91 39

Antje Horn-Conrad

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