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Auch die Potsdamer Künstlerin Lou Hoyer ist in der Schau im Getreidesilo dabei. Sie verknüpft biblische Motive mit der Frage nach Ressourcen.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Wem gehört die Welt?: Im Kornsilo Rehbrücke wird wieder Kunst gezeigt

Der Verein artifact macht den Getreidespeicher in Rehbrücke zum zweiten Mal zum Ort des Nachdenkens über Kunst, Gemeinschaft und Ressourcen.

Rot und Blau und Gelb tanzen ineinander, etwas Weiß grätscht dazwischen. Neun mal zehn Meter groß ist die Leinwand, auf der diese Farben sich austoben, angebracht an prominenter Stelle. Dreißig Meter hoch ist der Kornspeicher in Rehbrücke. Der abblätternde Putz seiner Fassade ist seit einigen Tagen mit der großformatigen Arbeit von Martin Gnadt und Oliver Johannsen bedeckt. Kunst!, ruft die Fassade über die Gleise hin Richtung Wohngebiet. Kunst!, auch zur Regionalbahn, die hier im Halbstundentakt nach Berlin vorbeifährt. Der Speicher streckt seine Fühler in viele Richtungen aus.

Zum zweiten Mal schon wird das Industriedenkmal zum Ort für künstlerischen Austausch. Nach dem Auftakt im vergangenen Jahr ist diesmal das Miteinander selbst Thema: Kollektivität. Den Impuls dafür gab die Documenta 15 im Jahr 2022. Nicht wegen der skandalumwitterten Antisemitismusvorwürfe, für die die Documenta in Erinnerung bleiben wird. Sondern wegen des Ansatzes, für den die kritisierte Kurator:innengruppe Ruangrupa stand: eine kooperative und interdisziplinäre Plattform zu schaffen. Auf der Documenta war das Lumbung-Prinzip Vorbild: eine indonesische Reisscheune. Ein Ort, an dem Getreide verwahrt wird, sollte zum Ort des Nachdenkens werden. Über Kunst, aber auch über Ressourcen.

Ein Betongigant von 1961

Was in Kassel die Reisscheune war, ist in Rehbrücke das Getreidesilo. Die initiierende Gruppe heißt hier artifact e.V., kuratiert haben Jenny Alten, Udo Koloska und Phillip Langer. Der hiesige Betongigant war 1961 als Inbegriff einer ganz anderen Vorstellung von Kollektiv erbaut worden. Als Mono-Funktions-Gebäude des VEB Fortschritt, für die kollektive Lagerung von Saatgut. Roggen vor allem. Dreißig Jahre wurde kollektiv gelagert, dann kam die Wende, 1993 war Schluss. Seitdem steht das Silo leer.

Die Frage, um die es der Ausstellung im Kern geht, ist keine Kleinigkeit: Wem gehört die Welt? Udo Koloska hat die Geschichte des Hauses recherchiert und mit einem Nachdenken über die heutige Agrarlobby verknüpft. Saatgut wird weltweit im Wesentlichen von einer Handvoll Firmen verkauft, hat er herausgefunden: ein unglaubliches Monopol in den Händen von sehr wenigen, die daran sehr gut verdienen.

Die initiierende Gruppe heißt artifact e.V., kuratiert haben Jenny Alten, Udo Koloska und Phillip Langer.
Die initiierende Gruppe heißt artifact e.V., kuratiert haben Jenny Alten, Udo Koloska und Phillip Langer.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Wer da nicht mitmachen will, muss sich Saat über eine Opensource-Lizensierung besorgen: Die soll gewährleisten, dass Korn eine gemeinschaftliche Ressource bleibt. Mit solchem Korn hat Udo Koloska gearbeitet. Wie schnell so eine gemeinschaftliche Initiative wachsen kann, wie angreifbar die Schätze der Natur auf einem Boden aus Beton aussieht, macht er haptisch greifbar: Auf einigen Kilogramm Ackerboden hat er im Getreidesilo selbst Roggen ausgesät. Wenige Tage alt, schon einige Zentimeter hoch.

Ich finde das Wort Kollektiv ambivalent - anachronistisch und gleichzeitig modisch bemüht.

Marcus Große, Künstler

Das Team um den Verein Artifact ist angetreten, um die Kraft zu zeigen, die im Begriff des Kollektiven steckt. Um potenziell weniger erquickliche Nebenerscheinungen wie Gemeinschaftsdruck oder Gleichmacherei geht es hier weniger. Schon eher um die Schwierigkeit, so etwas wie Kollektivität überhaupt zu erreichen. Der Künstler Marcus Große schreibt im Katalog: „Ich finde das Wort Kollektiv ambivalent - anachronistisch und gleichzeitig modisch bemüht.“

Landschaft als Behauptung?

Gewöhnlich gebrauche er „in eine Unterhaltung über den real existierenden Sozialismus oder den zeitgenössischen Kunstbetrieb“ gerate. Im Speicher von Große zu sehen: Erinnerungen an Erlebnisse mit einer Wandergruppe, mit der er seit vielen Jahren unterwegs ist. Fotos von Landschaften, auch Selfies. Rührende, auch komische Versuche, Gemeinschaft zu erzeugen oder abzubilden, sind das. Darunter auch ein Berg, den Goethe einst bestieg, ein Stück Natur, das dadurch Weltruhm errang. „Landschaft ist eine Behauptung“, schreibt Marcus Große, „eine kollektive Übereinkunft.“

Der 30 Meter hohe Kornspeicher wurde 1961 erbaut.
Der 30 Meter hohe Kornspeicher wurde 1961 erbaut.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Gezeigt wird auch, was für disparate Fantasiegestalten ein Kollektiv erstellt, wenn es ohne Absprachen arbeitet: Die von Cécile Wesolowski inspirierte Kollaboration „Cadavre exquis“ sind Gemeinschaftswerke. Entstanden durch verschiedene Künstler:innen, die jeweils nur Ausschnitte aus der Arbeit der anderen kannten. Eine Art Dialog ins Blaue hinein, der erst auf dem Papier Sinn ergibt - oder eben nicht. Mal sehen die so entstandenen Bilder wie Monster aus, mal wie ausgefeilte Bildkompositionen.

1800 Quadratmeter Fläche auf fünf Etagen werden hier bespielt. Der Speicher erweist sich einmal mehr als kolossaler, beeindruckende Spielplatz für die Kunst. Womöglich zum letzten Mal. „Wir spüren, wie sehr das an den Kräften zehrt“, sagt Udo Koloska. Und gleichzeitig merkt er, dass er eigentlich etwas anderes sucht als diese doch etwas größenwahnsinnige Auseinandersetzung mit einem Giganten aus Beton. Eigentlich, sagt Udo Koloska, träumt er von einem Ort, an dem man wirklich dauerhaft arbeiten kann. Im Kollektiv.

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