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Kultur: Wer bin ich?

Der Journalist Charly Kowalczyk sprach mit Pflegekindern und schrieb darüber ein Buch

Nadja wusste immer, dass sie ein Pflegekind ist. Sie fühlt sich in ihrer Pflegefamilie geborgen und weiß mit ihren 15 Jahren schon sehr genau, was sie von ihrem Leben verlangt. Mindestens drei Kinder will sie einmal haben und eine Ausbildung machen, statt ewig zur Schule zu gehen. Und ihre leibliche Mutter möchte sie wenigstens einmal sehen, um zu wissen, ob sie ihr ähnlich sieht. „Einen Menschen X kann man sich nicht vorstellen.“

Oliver, 17 Jahre, hat inzwischen mehr Kontakt zu seiner leiblichen als zu seiner Pflegemutter. Zwölf Jahre hatte er jene nicht gesehen. In der Pflegefamilie häuften sich die Probleme derart, dass er in eine Jugend-WG zog. Hätte er das nicht getan, sagt er, hätte er weder seinen Hauptschulabschluss geschafft, noch eine Ausbildung angefangen. Oliver hat sein Leben sehr früh selbst in die Hand genommen, seine leibliche Mutter ist ihm dabei ein Freund, kein Fixpunkt.

Charly Kowalczyk, selbst Pflegevater eines inzwischen volljährigen Zwillingspaares, arbeitet als Rundfunkjournalist für die ARD. Er sprach mit zahlreichen Pflege- und Adoptivkindern und veröffentlichte deren Geschichten in zwei Büchern. Am Dienstagabend las er im Alten Rathaus, auf Einladung des Pflegekinderdienstes und des Jugendamtes Potsdam, aus drei Biographien vor. Kaum jemand im zahlreichen Publikum, der nicht aus persönlicher Betroffenheit die Veranstaltung besuchte.

In den Stimmen der Kinder artikulierten sich die Probleme von Pflegekindschaft in ganz verschiedenen Facetten – aber auch Lösungen. Mit beeindruckender Reflektiertheit analysieren die Jugendlichen ihr Schicksal. Als verstoßene Opfer sieht sich keiner der drei, die Kowalczyk vorstellte. Auch Richard nicht, dessen Mutter an einem Hirntumor starb, als er fünf Jahre alt war. Der Stiefvater brachte ihn und seinen Bruder in ein Heim, aus dem sie ein halbes Jahr später in eine Pflegefamilie kamen. Trotz großer Probleme, die es in seiner Kindheit gab, betont Richard, der zu Zeit des Interviews 39 Jahre alt ist, seine Loyalität zu den Menschen, die ihn aufzogen: „Auch ohne Adoptivpapiere sind es meine Eltern.“ Erhofft hätte er sich damals mehr Hilfe von den Ämtern, die damals ausblieb. In dieser Hinsicht habe sich ein gesellschaftlicher Wandel vollzogen, sehr zum Wohle der Kinder, betonen sowohl Kowalczyk wie auch die anwesenden behördlichen Vertreterinnen. Die Hilfsangebote für Familien seien, trotz notorischem Personalmangel, vielfältig und abrufbar. Der Journalist rät aus Erfahrung, diese anzunehmen. Häufig seien es gerade die Erwachsenen, die Pflegeeltern, die mit eskalierenden Familiensituationen nicht klar kämen.

Kowalczyk hatte seine Gespräche ohne Fragebogen oder tiefenpsychologisches Konzept geführt. Einzige Bedingung war das Einverständnis der Pflegeeltern, die – wie die Kinder – die gedruckten Geschichten auch autorisierten. Durch dieses „Dreiecksverhältnis“ wurde aus ihm, dem unbeteiligten Journalisten, oft ein Sprachrohr der Kinder zu den Erwachsenen. Die Signale waren eindeutig: Kindern wollen Wahrheit. Kinder, gerade Pflegekinder, seien, so Kowalczyk, viel robuster, als ihnen unterstellt wird. Die Wirklichkeit würden sie allemal verkraften, viel eher als Unehrlichkeit.

So unterschiedlich die Schicksale seiner Interviewpartner seien – die Bedeutung des Kontaktes mit den leiblichen Eltern sei verallgemeinerbar. Die Frage: Wer bin ich? lasse sonst die Heranwachsenden nicht los. Tatsächlich scheint die Notwendigkeit, sich mit dem eigenen Schicksal auseinanderzusetzen, bei Nadja, Oliver und Richard vor allem dazu geführt zu haben, dass sie sich die Selbstbestimmung über ihr Leben nicht mehr aus der Hand nehmen lassen wollen. Lene Zade

Lene Zade

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