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Kultur: Zeitstimmen

Gesucht werden Tagebuch-Geschichten

Anschauung ist noch immer die beste Lehrmeisterin. Spricht man zum Beispiel vom „Kriegsende 1945“, so werden die Schulbücher ein anderes Bild davon zeichnen, als es in den Tagebüchern von Marianne V. aus Rehbrücke steht. „Vor Ort“ ist immer konkret. Eine auf zwei bis drei Jahre geplante Aktion des Brandenburgischen Literaturbüros und der Kurt-Tucholsky-Gedenkstätte in Rheinsberg versucht derzeit, diese Differenz fruchtbar zu machen. Unter dem Titel „Wir suchen Ihre Geschichte“ startet demnächst ein flächendeckender Aufruf mit der Bitte, Tagebücher, Briefsammlungen und Bilddokumente für ein „Kollektives Brandenburger Tagebuch“ zur Verfügung zu stellen. Eine zeitliche Begrenzung nach „rückwärts“ gibt es nicht, topografisch ist immer jenes „Brandenburg“ gemeint, das in den Aufzeichnungen beschrieben wird. Berlin bleibt ausgeklammert, die Kapazitäten für Logistik, Bearbeitung und Veröffentlichung sind knapp genug.

Am Donnerstag stellten Peter Walther vom Literaturbüro und Peter Böthig, Chef des Rheinsberger Literaturmuseums, das Projekt in der Urania vor. Ähnlich Walter Kempowskis „Echolot“-Konzept geht man davon aus, dass es im Lande jede Menge privater Aufzeichnungen von allgemeinem Interesse geben müsste. Da will man ran. Wer etwas zu geben hat, braucht nur Kontakt mit dem Literaturbüro aufzunehmen. Jeder Besitzer entscheidet selbst, ob Leihgabe, Dauerausleihe oder Schenkung, genauso, welche Passagen und Namen freigegeben werden, welche nicht. Wer sein Eigentum behalten möchte, kann fürs Archiv auch Kopien ziehen lassen. Bildmaterial einschließlich Filme sollen ohnehin digitalisiert werden, damit die Originale in der Hand ihrer Besitzer bleiben. Was man aber in die Treuhand der „Literaten“ gibt, wird im Rheinsberger Literaturmuseum gesichtet und nach modernen Verfahren für die Nachwelt aufbereitet. Das Hauptziel dieser Aktion ist einmal eine Veröffentlichung, entweder in den drei großen Regionalzeitungen oder im RBB. Für 2011 ist ein illustriertes Buch geplant, zudem eine DVD. Aber auch an eine allgemeine Nutzung nach Archivgrundsätzen sei gedacht.

Vielleicht verwertet ein Zeitgeschichtler oder Poet irgendwann dieses Material? Mit Günter de Bruyn haben die Initiatoren einen idealen Fürsprecher gefunden. „Diejenigen, die Geschichte machten oder erlitten, sollen hier zu Wort kommen. So könnte ein von den Brandenburgern selbst geschriebenes Geschichtsbuch entstehen“, gab er schon den „zeitstimmen“ mit auf den Weg. Diese Internetplattform arbeitet bereits nach dem beschriebenen Prinzip.

Man könnte das eingereichte Material nach verschiedenen Gesichtspunkten aufbereiten, schlug Peter Walther vor, in zeitlicher Kongruenz, nach topographischen oder thematischen Aspekten. Wie man sich das vorzustellen hat, demonstrierten die beiden Literaturexperten anhand bereits eingereichter Tagebücher aus Frankfurt/Oder und Rehbrücke. Dieselben Tage – ganz unterschiedliche Ereignisse im Frühjahr 1945! So steht natürlich in den Schulbüchern nicht, wie Marianne V. das Kriegsende feierte: Die allgemeine Auflösung spielte den Hamsterern ganze Ladungen von Kartoffeln und Zucker in die Hände. Man aß sich mitten im Kanonendonner an fetten Plinsen satt! schrieb die Tagebuch-Autorin. Das Projekt ist sehr elastisch ausgelegt, Brandenburg ist die räumliche Klammer, für das Zeitliche fand Walther den Satz: „Gestern ist der letzte Tag“.Gerold Paul

Gerold Paul

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