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Kultur: Zu viel, zu lang, zu verschwenderisch

Clown Calvero gastierte im Nikolaisaal

Clown Calvero gastierte im Nikolaisaal Einer soll immer der König sein. Die staunende Fachwelt von Bühne, Variete und Zirkus hat den Autodidakten und Allrounder Markus Stößer nach seinem ersten Soloprogramm „Love Laugh“ („Liebeslachen“) zu einem solchen erklärt. Vielleicht ein wenig früh. Nicht weil diese originale Mixtur aus Herz und Schmerz, Poesie und Äquilibristik, etwa schlecht gewesen wäre, sondern weil ihr, bei allem Respekt, gelegentlich die Krone fehlte. Unter dem Künstlernamen Calvero erzählt der Solist eine lange, gar herzzerreißende Geschichte, worin ein in Jonglur, Akrobatik, Pantomime und anderen Künsten hochbegabter Clown inmitten einer Vorstellung den ersehnten Brief seiner Angebeteten bekommt, die „mit dem schönsten Lächeln der Welt“. Während er sein Programm nach Maßgabe eines auf gelbem Papier fixierten Planes stumm abarbeitet, reißt ihm sein Herz („Mon Coeur“) auseinander, denn auch im Foyer des Nikolaisaales konnte er sich über fast zwei Stunden nicht entschließen, dieses Couvert zu öffnen. Er lenkt sich vergeblich ab, steckt das Billett unter dem Künstlerkoffer, doch beim nächsten Rücken kommt es erneut an den Tag. Auch beim einmaligen Gastspiel am Samstag litt das Publikum mit ihm über die Zeit, wankend zwischen Hoffnung und Zweifel, ob der bezaubernde Clown mit seinem hinreißenden Lächeln und den tieftraurigen Augen die unerhörte Tat doch noch vollbrächte, bevor die Sanduhr ablief. Der erste Teil bis zur Pause war angefüllt von allerlei sonderbaren Kunststücken, mit jonglierenden Bällen auf oder unter dem Tisch, mit einer vollkommenen, dann zerlegten Panflöte – Attraktionen der respektierlichen Art in Serie, daran viele Gründe zum Lachen lagen. Mit jungenhaftem Charme, toller Körpersprache, vortrefflichem Ausdruck in Mimik und Gestik sowie viel Sinn fürs Detail gibt er seine Parts dem Staunen preis, jubelt in höchsten Tönen, als dann dieser Brief ankommt, springt ins Publikum, tanzt mit einem Mädchen, wähnt sich, blauer Augenbrauen, taumelnd im Glück. Sympathisch, diese Figur, ein Charmeur der Königsklasse. Das ganze Programm nun ist eine Gratwanderung zwischen Herzensbegehren und Pflichterfüllung, ernsthafter Clownerie und „Psycho“, obgleich nach der so hübsch eingeführten Pause die Attraktionen als auch das Lachen verloren zu gehen schienen. Ein kurzer Steptanz mit Fingerhüten (wie man sie beim Nähen gebraucht) im Handstand, ein Glockenspiel am Schirm auf dem Kinn, sonst war der Ärmste über eine zu lange Zeit damit beschäftigt, die hartnäckige Polarität jenem Brief gegenüber zu bewältigen, welcher auf dem Notenständer immer höher und unerreichbarer kletterte. Fantasievoll: Mal diente ein Zollstock als Bogen und Pfeil, dann verwandelt sich das alte Nähkästchen in Vogelschwingen, der stumme Clown in einen staksenden Reiher, welcher später sogar Nachwuchs bekommt. Hübsch das alles, poetisch, nur fragte man sich, ob die eine Idee, den Brief zu öffnen, über fast zwei Stunden auch trägt, ob der Tobsuchtsanfall bei abgenommener Knollennase, der am Zollstock sichtbare Galgen das Wesen dieser Figur ästhetisch nicht überfordert und es der Zeichen der Kunst nicht allzu viele waren. Kurz, die beiden Teile des Sujets kamen nicht immer zusammen. Zu viel, zu lang, zu verschwenderisch. Die Sanduhr lief ab, noch immer war das Billett, inzwischen mit Brandspuren, ungeöffnet. Sollte Calvero sein Publikum tatsächlich im Zwiespalt entlassen? Mitnichten. Er öffnete, las, wie es keiner außer ihm kann, eine freudige Botschaft, jonglierte mit Rosen, trollte sich jungenhaft froh, um bei wiederkehrendem Applaus ein zweites Mal ins Couvert zu greifen. Jetzt zog er ein Blümlein der Zuneigung heraus, enteilte mit dem Liebeslächeln eines glückseligen Clowns hinter den Vorhang. Im Epilog war aus der akrobatischen Figur ein Kunstwerk geworden. Gerold Paul

Gerold Paul

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