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Potsdam-Mittelmark: Station der Angst

Gideon hörte nur „Neger raus“. Dann schlugen sie zu. Eine Busfahrt von der Elbestraße zum Ruhlsdorfer Platz

Teltow - Es war ein langer Tag für Gideon O., als er am 26. April 2003 seine Schicht beendete und von Stahnsdorf nach Hause wollte. Im Bus saßen bereits zwei Frauen und zwei Männer, deren äußerst kurzen Haare Gideon sofort aufgefallen sind. Als er in der Teltower Elbestraße aussteigt und auf den 117er nach Berlin wartet, atmet er zunächst auf, als die vier verschwinden. Doch er bleibt beunruhigt. Ihre Blicke. Wie sie ihn angeschaut haben. Die kahlen Köpfe. All das kannte er von Marzahn, wo ihn schon einmal Skinheads zusammenschlugen.

Als Gideon in den 117er steigt, sucht er sich einen Platz, wo er einen guten Überblick hat. Rein instinktiv. Der Bus ist keine 500 Meter gefahren, als er plötzlich scharf bremst. Ein Pärchen hat ihn mitten auf der Straße gestoppt. Der Busfahrer macht seine letzte Tour, er will nach Hause und den beiden Nachtschwärmern einen Gefallen tun, denn in den nächsten Stunden wird kein Bus mehr vorbeikommen. Er öffnet die Tür. Doch mit der Geste des Fahrers beginnt für Gideon die Hölle. 15 junge Leute kommen nach und nach aus einem Haus in der Potsdamer Straße gerannt und klettern in den Bus. Gideon erkennt eine der Frauen aus dem anderen Bus. Er sieht die kurzen Haare der Männer, ihm fällt die einheitliche Kleidung auf, er spürt in sich die Angst hochkriechen und überlegt im ersten Moment, aus dem Fenster zu springen. Aber es sind zu viele. Er denkt, nicht alle können ihm etwas Böses tun, einige werden helfen. Dann kommen die ersten Sprüche. „Schwarzer Mann, es stinkt.“ „Neger raus, raus, raus!“ Gideon ruft, er sei Amerikaner, da landet die erste Faust in seinem Gesicht. Blut strömt aus seiner Nase. Weitere Schläge folgen. Er versucht nach vorn zum Fahrer zu gelangen, doch er wird hin- und hergestoßen. Jemand tritt ihn in den Rücken. Um ihn herum grölt es: „Neger raus, raus, raus!“ Vor seinen Augen hat Gideon einen blutigen Schleier, in seinen Ohren dröhnt es. „Presskohle! Nigger!“ Keiner hilft.

Von einer Busstation bis zur nächsten wird gegrölt, geschlagen und getreten. Vielleicht zwei, drei Minuten, von den Gideon denkt, es sind die letzten seines Lebens. „Ich hatte Todesangst“, sagt der 37-Jährige.

Zwischen zwei Haltstellen entlädt sich eine geballte Ladung rechter Gewalt und eine Gesinnung, die sich die jungen Teltower gegenseitig in die kahlen Köpfe geredet und an diesem Abend mit reichlich Schnaps und Bier umspült haben, der sie mit Bomberjacken, Totenkopf-Tattoos und Springerstiefeln Ausdruck verleihen. Später werden einige von ihnen sagen, dass es sich bei einem der Schläger um einen „absoluten Rechten“ handelt. Einer wird erzählen, dass in dem Moment, in dem er Gideon im Bus sah, wusste, „dass es Ärger geben wird, weil die halt so drauf sind“. Als einer von ihnen später in Untersuchungshaft sitzt und sich im Stich gelassen fühlt, beklagt er sich: „Scheiße bauen können sie alle. Ich hoffe nur, dass andere auch mal ihr großes Maul auf machen. Schöne “Teltower Kameradschaft“!“ Von einer Kameradschaft will später, als die Staatsanwaltschaft ermittelt, keiner etwas wissen. Die Teltower Polizei kennt die meisten Beteiligten aus der rechten Szene. Aber von einer „Teltower Kameradschaft“ weiß sie nichts.

Als der Bus am Ruhlsdorfer Platz hält und es dem Fahrer endlich gelungen ist, den Alarm auszulösen, steigt die Meute aus. Ein paar kommen zurück, schlagen nochmals zu. Eine Scheibe klirrt und einer der Schläger springt durch das Fenster. Alle 15, die in den Bus stiegen, rennen davon. Gideon O. bleibt zurück mit blutenden Wunden, Schädel- und Thoraxprellungen.

Anderthalb Jahre braucht die Staatsanwaltschaft, bis sie am Potsdamer Landgericht Anklage wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung, Beleidigung und Volksverhetzung erhebt. Zu spät, wie das Gericht bemängelt, um sofort adäquate Strafen zu verhängen, die vielleicht zu einem Gesinnungswandel geführt und einen erzieherischen Wert gehabt hätten. So sitzen, als es jetzt zweieinhalb Jahre nach dem Überfall zum Prozessauftakt kam, unter den elf Angeklagten noch immer welche auf der Bank, die selbst vor der Strafkammer ihre kurzen Haare und Bomberjacken als rechte Markenzeichen zur Schau tragen. Selbst ihren Fremdenhass verhehlen sie nicht: „Bei einem Farbigen entschuldige ich mich nicht“, gibt einer derAngeklagten zu Protokoll.

Andere beteuern ihren Ausstieg aus der rechten Szene. Als das Verfahren gegen drei geständige Angeklagte bereits am ersten Verhandlungstag gegen Zahlung einer Geldstrafe von 300 Euro eingestellt wird, begehrt die „Opferperspektive“ auf: „Ohne den Betroffenen überhaupt zu hören, wurde eine Bewertung der Schuld vorgenommen,“ kritisiert die Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt. Staatsanwalt Peter Petersen rechtfertigt das eilige Prozessende für die drei Geständigen. Sie hätten zugeben, sich im Bus an dem rassistischen Gegröle beteiligt zu haben. Sie hätten sich per Handschlag bei dem Opfer entschuldigt und glaubhaft den Ausstieg aus der Szene vermittelt. Doch als die drei später noch einmal als Zeugen geladen werden, mag man am Wahrheitsgehalt ihren Beteuerungen zweifeln. Noch immer sind die Haare szenetypisch kurz, strafft sich die Bomberjacke übers breite Kreuz. „Gegen eine Einstellung des Verfahrens hätten die alles unterschrieben“, meint Rechtsanwältin Ola Jentsch, die als Nebenklägerin Gideon O. vertritt. Auch einer der Verteidiger der restlichen Angeklagten hält die Entschuldigungen nicht für überzeugend.

Zum Teil sind es Heranwachsene, die sich vor Gericht verantworten mussten. Sie sind 20 oder 22, vor ein paar Jahren haben sie noch die Teltower Realschule besucht. Sie sind hier aufgewachsen, meist haben sie einen Job oder eine Lehrstelle. Manche wohnen noch immer im Elternhaus, wo, so meint die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe, auf einen „respektvollen Umgang Wert gelegt wird“. Respekt hat Gideon O. nicht erfahren. Der Potsdamer Strafverteidiger Frank Hülsenbeck, dessen Mandant als einziger freigesprochen wurde, weil er an der Tat nicht beteiligt, sieht bei den übrigen Angeklagten „eine Gesinnung, die von niemand anderem im Saal geteilt wird“. Dennoch habe es einen fairen Prozess gegeben, um die Wahrheit herauszufinden.

Zweieinhalb Jahre nach dem Überfall wurde im Gerichtsaal versucht, die wenigen Minuten im Bus akribisch nachzustellen. Wer hat wo gestanden, wer hat was gerufen, wer hat geschlagen. Kahlköpfige Zeugen werden angehört. Manche wollen nichts gesehen und nichts gehört haben, andere widersprechen sich und revidieren frühere Aussagen – zum Teil zu Lasten der Angeklagten. Manche Zeugenauftritte sind von so dumpfer und naiver Qualität, dass selbst die Verteidiger ein Stirnrunzeln nicht verbergen können.

Besonders „perfide“ nannte Staatsanwalt Petersen die Einlassung des Angeklagten Marcel L, einst Mitglied der NPD, in der rechten Szene einschlägig bekannt und wegen mehrerer Gewaltdelikte vorbestraft. Er habe, so Marcel L., zu schlichten versucht und dabei Gideon O. reflexartig geschlagen. Beim Busfahrer hat er sich entschuldigt. „Doch es ist perfide, wofür sich der Angeklagte entschuldigt“, so Petersen. „Nämlich dafür, dass er einem deutschen Busfahrer seinen deutschen Feierabend verdorben hat und dass eine deutsche Fensterscheibe zu Bruch gegangen ist.“ Das wirkliche Opfer war Marcel L. bis zum Schluss keine Entschuldigung wert, „wegen seiner ausländerfeindlichen Gesinnung“, wie das Gericht bemerkte.

Auch wenn es zweieinhalb Jahre gedauert hat, die Täter vor Gericht zu stellen, „ist es gut, dass dieser Prozess stattfand“, so der Teltower Anwalt Frank Fromm. „Denn er wird einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.“ Darauf setzt wohl auch das Gericht, das zumindest gegen die drei Heranwachsenden ein „mildes, aber angemessenes Urteil“ sprach, wie Fromm befand. Die drei wurden verwarnt und müssen eine Geldbuße zwischen 600 und 1200 Euro zahlen. Weitaus härter fielen die Richtersprüche gegen die beiden Haupttäter aus. Adrian J., der bereits eine vierjährige Haftstrafe verbüßt, muss weitere acht Monate ins Gefängnis. Marcel L, der vermeintliche Kommandoführer, bekam eine dreijährige Bewährungsstrafe. Beide wurden wegen gefährlicher Körperverletzung, Volksverhetzung und Beleidigung verurteilt.

Ausdrücklich betonte das Gericht die Mitschuld aller Beteiligten. Auch wer nicht gegrölt und geschlagen hat, hat sich der unterlassenen Hilfeleistung und Beihilfe schuldig gemacht. Wo objektiv Hilfe nötig war, hat man heimliche Freude an den Handlungen gefunden. Keinen einzigen wollte das Gericht freisprechen: „Alle haben sich durch eine gemeinsame rechtsradikale Einstellung und ihrer Intoleranz gegenüber Ausländern mit der Tat verbunden gefühlt.“

Den Tätern wie auch dem Opfer sollten durch die Anklage und die Urteile klar gemacht werden, dass „Angriffe auf die Menschenwürde“ nicht toleriert werden. Gideon O. kann nicht sagen, ob ihm das helfen wird. Seit der Busfahrt leidet er unter Panikattacken. Seit zweieinhalb Jahren lebt er in Angstzuständen.

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