zum Hauptinhalt
Jan Lazardzig und Lisa-Frederike Seidler vom Institut für Theaterwissenschaft wollen alle Seiten der Universitätsgeschichte erforschen. 

© Bernd Wannenmacher

Rückschau im Jubiläumsjahr: Wie erforscht man die eigene Geschichte?

Die Freie Universität Berlin richtet eine Arbeitsstelle zur Aufarbeitung ihrer Geschichte ein. Einer der Initiatoren ist Jan Lazardzig vom Institut für Theaterwissenschaft.

Von Anne Kostrzewa

Wer Jan Lazardzigs Büro am Institut für Theaterwissenschaft betritt, ist mittendrin in der Geschichte der Freien Universität Berlin. An der Wand hängen großformatige Fotos: der Besuch des US-Präsidenten John F. Kennedy im Juni 1963. Ein Zeitungsausschnitt zur Studierendenbewegung 1968. Auch das Gebäude in der Grunewaldstraße selbst, erbaut im Nationalsozialismus, steckt voller Historie. Hinter der von Metallskulpturen deutscher Forscher verzierten Eingangstür lagen einst die Räume der Vorläuferinstitution der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Der Hörsaal im Erdgeschoss, ehemals ein Sitzungssaal, ist noch immer holzvertäfelt. Im ehemaligen Direktorenzimmer warten Hunderte Videokassetten auf ihre Digitalisierung.

Die auf den Videokassetten gespeicherten Aufnahmen von Theaterproduktionen müsste man aus Sicht der heutigen Datenschutzregelungen wohl als halblegal ansehen, sagt Jan Lazardzig und blickt an den schmalen Holzregalen empor, die bis zur Decke reichen. Als sie gefilmt wurden, unterzeichneten sicher nicht alle Mitwirkenden Einverständniserklärungen über die Weiternutzung der Filme. Aufbewahrt werden sie trotzdem, denn sie sind auch ein wichtiger möglicher Zugang zur Universitätsgeschichte. Um genau die soll es in dem Projekt gehen, das Jan Lazardzig und Mitstreitende mehrerer Institute im vergangenen Herbst angestoßen haben: Sie wollen die Geschichte der Freien Universität weiter erforschen.

„Die Geschichte der Freien Universität ist ein spannender Forschungsgegenstand“, sagt Jan Lazardzig. Aus seiner Sicht sei die Selbstdarstellung der Freien Universität geprägt von „drei großen Geschichten“: ihre freiheitliche Gründung als Antwort auf die kommunistische Einflussnahme auf die Lehre im Ostsektor der Stadt. Die Studierendenbewegung in den 1960er Jahren. Und die Erfolge in den Exzellenzwettbewerben des Bundes und der Länder seit 2007.

„Wenn immer dieselben Geschichten erzählt werden, ist das verschenktes Potenzial. Es muss auch darum gehen, Institutionen umfassend dazustellen, nur dann ist die historische Aufarbeitung sinnvoll“, sagt Jan Lazardzig. Es sei Teil des Auftrags, die Bedingungen der Wissensproduktion immer wieder zu hinterfragen: „Forschung muss kritisch sein, gerade auch gegenüber sich selbst.“

Die Geschichte der Freien Universität beginnt vor ihrer Gründung.

Jan Lazardzig, Professor für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin

Mit diesem Anspruch steht der Theaterwissenschaftler nicht allein. Vor etwa einem Jahr, im Herbst 2022, bildete sich ein Initiativkreis: Forschende der Philosophie, Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Archäologie, Publizistik, der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und eben der Theaterwissenschaft hätten sich vernetzt und festgestellt: „Auch zum Jubiläum würde es vor allem um diese drei Geschichten gehen.“

Viele Institute der Freien Universität würden ihre Geschichte bereits kritisch aufarbeiten; diese Arbeit werde jedoch nirgends zusammengeführt. „Das Jubiläum erschien uns als guter Anlass, diese Lücke zu schließen“, sagt der Theaterwissenschaftler. Hinzu komme die Feststellung, dass durch die Pandemie viele Studierende „den Bezug zum Campus, die Identifikation mit dem Ort, an dem sie studieren“, verloren hätten.

Mit diesen Gedanken trat der Initiativkreis im vergangenen Jahr an das Präsidium heran und erreichte die nun in Planung befindliche Arbeitsstelle zur Universitätsgeschichte der Freien Universität. Sie soll am Universitätsarchiv angesiedelt sein und zwei Postdoc-Stellen umfassen. Den Initiatoren ist es jedoch wichtig, dass es sich bei der Arbeitsstelle um eine „unabhängige Einrichtung“ handelt, die „dezentral organisiert“ ist, sagt Jan Lazardzig. „Nur so können wir der gewünschten Multiperspektivität Rechnung tragen.“

Bei der Aufarbeitung der Universitätsgeschichte wird nicht nicht erst im Gründungsjahr 1948 angesetzt. Auch auf die Vorgängerinstitutionen und übernommene Grundstücke in Dahlem soll sich das Projekt erstrecken. Denn auch hier warten Geschichten darauf, tiefer erforscht und erzählt zu werden, weiß Lazardzig. Die Theaterwissenschaftliche Sammlung etwa, die in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiert. Der Botanische Garten und das Botanische Museum, die mit ihren über 43 Hektar seit 1995 zur Freien Universität gehören und eine der größten und spektakulärsten Botanischen Sammlungen weltweit beherbergen, blicken auf eine noch längere Historie zurück.

In einem Projekt wird bereits die Geschichte der Ihnestraße 22 erforscht. Heute sind dort Teile des Instituts für Politikwissenschaft beherbergt. Zwischen 1927 und 1945 gehörte die Adresse dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Seine Geschichte ist eng verwoben mit dem Vernichtungslager Auschwitz und den menschenverachtenden Mitteln der Zwillingsforschung des nationalsozialistischen Kriegsverbrechers Josef Mengele.

Während die Arbeitsstelle noch im Aufbau ist, hat eine interdisziplinäre Ringvorlesung mit dem Titel „Geschichte der Freien Universität: Topographie, Institution, Erbe“ bereits im Oktober begonnen und steht auch der interessierten Öffentlichkeit offen. Konzipiert wurde sie von Jan Lazardzig und Lisa-Frederike Seidler, die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft ist. „Unser Ziel ist es, die Vielgestaltigkeit dessen abzubilden, was Universitätsgeschichte sein kann“, sagt sie. „Die Ringvorlesung soll zusammentragen, wozu bereits geforscht wird, und nicht zuletzt auch bei Studierenden ein Bewusstsein schaffen für den Ort, an dem sie studieren.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false