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Befreit von der Übergröße: Wie Speerwerferin Stahl den EM-Titel holte

Ausgerechnet Linda Stahl, die Frau aus der zweiten Reihe, hat bei der EM Gold geholt.

Barcelona - Im Halbdunkel stand auch Steffi Nerius. Im Schein der flackernden Kerzen war sie nur undeutlich zu sehen, eine Frau in der Unauffälligkeit, die entspannt ein Glas in der Hand hielt. Sie hatte einigen Anteil daran, dass eine junge Frau wie ein Star auf die Bühne im deutschen EM-Klub zusteuerte, von Kamerateams flankiert, von einem mobilen Spotlight angestrahlt. „Begrüßen Sie mit mir die neue Europameisterin im Speerwerfen, Linda Stahl“, rief der Moderator auf der Bühne. Die Gäste in dem Restaurant über den Dächern von Barcelona klatschten begeistert. Nerius auch.

Sie sitzt im Alltag inzwischen in einem Büro in Leverkusen, zusammen mit ihrem früheren Trainer Helge Zöllkau. Sie ist Trainerin für Behinderte, nachdem sie 2009 glanzvoll als Speerwurf-Weltmeisterin abgetreten ist. Die Übergröße ist weg. Stahl, die im Finale mit 66,81 Metern persönliche Bestleistung geworfen hatte, und Katharina Molitor, mit 63,81 Metern Vierte, hatten endlich mehr Freiraum. Nerius, Stahl und Molitor waren jahrelang zusammen in Zöllkaus Trainingsgruppe. „Natürlich haben die anderen darunter gelitten, dass ich mich so viel mit Steffi beschäftigt habe“, sagt der Trainer. „Jetzt habe ich 10, 15 Minuten mehr Zeit pro Einheit für die anderen.“

Jetzt ist jemand weg, der durch seine Dominanz auch die anderen gedrückt hatte. Für Stahl hat die größere Aufmerksamkeit viel Bedeutung. Sie investiert weniger Zeit in den Sport als andere, deshalb ist für sie jede Minute, in der sie korrigiert wird, wichtig. Früher fuhr die Medizinstudentin jeden Tag nach Münster zur Uni, jetzt ist sie in Köln eingeschrieben. „Der Trainer weiß, dass mir das Studium wichtiger ist als der Sport“, sagt Stahl. Der Trainer sagt, das sei okay für ihn.

Er sieht ihr Potenzial. 2008 verpasste sie die Olympischen Spiele nur, weil sie die Norm ein paar Tage zu spät geworfen hatte. Bei der WM 2009 belegte sie Rang sechs, einen Platz hinter Christina Obergföll. Die schwankte in Barcelona zwischen Frust und Freude. Soll sie sich nun freuen über ihr Silber mit 65,58 Metern? Nein, „reine Freude“ spürte sie nicht. Christina Obergföll wollte ein Comeback nach ihrem verkorksten Jahr 2009, in dem sie ihr psychisches und sportliches Tief erlebt hatte. Nerius war damals die Heldin, die verletzte Obergföll dagegen blieb unbeachtet und arbeitete sich an der Sinnfrage ab.

Mit EM-Gold hätte sie endgültig ihre Vergangenheit abgehakt; auch Silber wäre noch okay gewesen, wenn etwa Barbora Spotakova, die Weltrekordlerin aus Tschechien, in Barcelona gewonnen hätte. Aber ausgerechnet Stahl, die Frau aus der zweiten Reihe im eigenen Team? Noch eine Leverkusenerin? Nur halbironisch sagte Obergföll zu Stahl: „Aber nicht, dass das mit euch Leverkusenerinnen noch zu einem Fluch wird.“ Frank Bachner

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