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Rund im Grau. Aus dem trostlosen Brüsseler Problemviertel Molenbeek stammen viele Fußballprofis.

© Ali Ali/laif

Belgiens Talentschmiede: Beim Fußball spricht Molenbeek eine gemeinsame Sprache

Bei den Terror-Anschlägen in Paris und Brüssel führte die Spur nach Molenbeek. Doch aus dem Problemviertel kommen auch talentierte Fußballer - und Impulse für soziale Integration.

Es sind nur ein paar Schritte vom Fischmarkt im historischen Zentrum Brüssels rüber nach Molenbeek. Der Kontrast könnte kaum größer sein. Hinter dem Charleroi-Kanal fängt eine andere Welt an: Auf der Hauptstraße, der Chaussee de Gend, ist samstags Markt. Fliegende Händler haben ihre Auslagen, überwiegend billige Textilien, ausgebreitet. Es ist eng. Fast alle Frauen tragen ein Kopftuch, vor den Teestuben sitzen nur Männer. Die Stimmung ist gedrückt. Selten hört man ein Lachen. Die Menschen schauen Fremden nicht ins Gesicht. Besucher sind ihnen offensichtlich unangenehm. Sie wissen, mit welchen Augen die Welt auf Molenbeek blickt.

Die Anschläge von Paris und Brüssel wurden von jungen Männern geplant und ausgeführt, die in diesen Straßen aufwuchsen. Bevor sie zu Terroristen wurden, lungerten sie rund um die U-Bahn-Station Beekant herum, eine Gegend mit überwiegend marokkanischstämmiger Bevölkerung. Die schmalen Backsteinhäuser sind meist zwei- oder dreigeschossig. Die Gegend ist an Trostlosigkeit kaum zu überbieten.

Hier in Molenbeek leben nicht einmal 100 000 Menschen. Im eigentlichen Brennpunkt zwischen Kanal und der Eisenbahnlinie wohnt vielleicht die Hälfte von ihnen. Doch ob bei den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo, das Konzerthaus Bataclan, die Metrostation Maalbeek oder den Flughafen Zavantem – bei allen diesen Terrorakten, die auf das Konto des IS gingen, führte immer eine Spur nach Molenbeek. Ganz Belgien steht im Ruf, Nest und Rückzugsort für Terroristen zu sein. Gemessen an der Bevölkerungszahl zogen aus keinem anderen Land der EU so viele IS-Legionäre in den Krieg nach Syrien wie aus Belgien.

Angst und Schrecken, Kleinkriminalität und Zukunftslosigkeit. Das ist aber nicht alles, wofür Molenbeek steht. Molenbeek ist eine Kaderschmiede für den Sport. Legendär sind die Fußballer, die hier groß geworden sind. Vincent Kompany, der derzeit verletzte Kapitän der belgischen Nationalmannschaft und Verteidiger bei Manchester City, ist im Viertel aufgewachsen. Kompany, dessen Vater aus dem Kongo kommt, hat sogar den Club FC Bleid Molenbeek gekauft und unter dem unverfänglicheren Namen BX Bleid Brussels ins Rennen geschickt. Romelu Lukaku, der Stürmer des FC Everton, hat ebenfalls seine Wurzeln in Molenbeek. Der belgische Fußball ist derzeit so erfolgreich wie noch nie.

"Die besten Spieler kommen aus den schwierigsten Stadtteilen"

Zeitungen sprechen bei Lukaku, Kompany und Co. von der „goldenen Generation“. Auf kein anderes Land hat die talentgierige und finanzkräftige englische Premier League so sehr ein Auge geworfen wie auf das kleine zerstrittene Belgien mit seinen elf Millionen Einwohnern. Kein Wunder, dass die Nationalmannschaft – von 23 Spielern im Kader haben zwölf Wurzeln außerhalb Belgiens – als Favorit bei der EM in Frankreich gilt.

In Molenbeek spielt die alte Geschichte von Jugendlichen, die dem sozialen Elend, der Gewalt in den Familien, der Arbeitslosigkeit entkommen wollen und für die der Fußball eine Chance dafür bietet. Jean Kindermans, Talentsucher beim großen belgischen Klub RSC Anderlecht, sagte der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Inzwischen kommen die besten Spieler aus den schwierigsten Stadtteilen.“ Und Molenbeek, das an Anderlecht angrenzt, sei „für uns wie ein Meer voller Talente“.

Doch wie kriegt man es hin, dass junge Spieler nicht irgendwann die Lust verlieren, den vermeintlich einfachen Weg gehen, in schlechte Gesellschaft kommen, Drogen nehmen, bei Frustration auf dem Platz oder in der Familie die Fußballschuhe an den Nagel hängen und ihre Jugend mit Kiffen, Alkohol und Kleinkriminalität vergeuden? Oder abdriften Richtung Dschihad?

Thierry Dailly hat darauf eine Antwort. „Man darf die Kinder heute nicht mehr allein lassen.“ Dailly ist Präsident und Manager von einem Klub, der schon bessere Zeiten gesehen hat und daran jetzt anknüpfen will: Die Rede ist von „Racing White Daring Molenbeek“. Kurz RWDM. Das ist ein Verein, der in Belgien Kultstatus genießt, vergleichbar mit dem 1. FC Union Berlin. Obwohl RWDM, der in den 70ern auf europäischem Niveau spielte und 1976 erst im Halbfinale des Uefa-Cups ausschied, heute mehrere Pleiten hinter sich hat und viertklassig ist, kommen zu Heimspielen im altehrwürdigen Edmond-Machtens-Stadion von Molenbeek 4000 Zuschauer. Mehr als bei manchen Erstligisten.

Jetzt geht es auch um die Eltern

Dem 48-jährigen Dailly geht es um einen Neustart des RWDM. Dafür gönnt sich der Unternehmer beruflich ein Sabbatjahr. Es sei sein großes Projekt, „sowohl sportlich als auch sozial“. Ehrenamtliche des Klubs springen ein, wo die Familien, die belgische Gesellschaft und Behörden versagen: „Wir bieten Hausaufgabenhilfe an.“ Eine Handvoll Betreuer kümmere sich darum, dass Kinder aus den Jugendmannschaften des Klubs erst ihre Matheaufgaben lösen und Aufsätze schreiben, bevor es auf den Fußballplatz zum Training geht. Dailly: „Wir müssen den Kindern Disziplin beibringen. Das hilft im Leben und auf dem Fußballplatz.“ Selbst die Eltern sind im Fokus. Dailly konnte eine große belgische Unternehmensberatung als Partner für die Sozialarbeit des Klubs gewinnen. „Die Experten helfen den Kindern und ihren Eltern bei der Jobsuche.“

Und welche Sprache spricht man im Klub? Das Land ist schließlich tief gespalten. Es gibt eine französische und eine niederländische Sprachfamilie, ob Gewerkschaften, Banken oder Medien, überall leistet sich Belgien doppelte Strukturen. Die eine richtet sich an die französischsprachige Bevölkerung im Süden des Landes, die andere an die niederländisch sprachige Bevölkerung im Norden. Französisch oder Niederländisch? Für Dailly ist die Frage abwegig. „Ich bin Brüsseler, ich spreche beides.“ Und im Nationalteam? Trainer Marc Wilmots ist perfekt zweisprachig. Viele Spieler sind es auch. All das spricht dafür, dass in der Welt des Fußballs die Teilung des Landes in „frankophone“ und „néerlandais“ nicht existiert. Im Kopf nicht und auf dem Platz nicht. Am Ende stiftet der Fußball den Belgiern die nationale Identität, die dem Land sonst fehlt.

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