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Sport: Das Mittelalter auf der Dreieckswiese

Tauziehen ist eine Sportart aus der Vergangenheit – und ein Publikumsrenner bei den World Games

„Take the strain!“, ruft der Schiedsrichter, „spannen!“ 32 Fersen rammen sich in den Rasen, 32 Hände umgreifen das Seil. Zuhinterst legt sich jeweils ein Sportler das 35 Meter lange Seil wie eine Riesenschlange über den Rücken, diagonal von einer Schulter zur anderen. Er ist der jeweilige Ankermann. Für einen Moment ist es ruhig auf der Dreieckswiese im Duisburger Sportpark. Der Unparteiische zentriert das Sportgerät, hebt langsam die Arme, dreht die Handflächen nach außen. Dann schreit er: „Pull“.

Plötzlich spannen sich auch die Muskeln der 16 Athleten, im Winkel von 45 Grad stemmen sie sich in den Rasen, auf den Schläfen zeichnen sich die Adern ab. „Stay there“ und „come on“, brüllen irische und englische Zuschauer, „hopp Schwyz“ schreien die Schweizer Fans, untermalt vom Geläut riesiger Kuhglocken. Die Stimmung ist fantastisch.

Viele Sportarten bei den 7. World Games in Duisburg haben kaum Zuschauer, beim Tauziehen ist alles anders. Die beiden Veranstaltungen am Wochenende waren mit jeweils rund 1000 Zuschauern ausverkauft; Hunderte mussten draußen bleiben, einige verfolgten über den Zaun hinweg das Schauspiel. „Wir gehören zu den Stars der Weltspiele“, sagt Matthias Boschert. Der Südbadener gehört der deutschen Mannschaft an, die gestern als amtierender Europameister in der 640 Kilogramm-Klasse als Mitfavorit startete (bei Redaktionsschluss nicht beendet). Er erklärt, worauf es bei seinem Sport ankommt. „Das ist meine 20. Saison“, sagt der 34-jährige Werkstoffprüfer von den Sportfreunden Goldscheuer, einem 5000 Einwohner zählenden Ort in der Nähe von Kehl. Goldscheuer stellt neben dem 120 Kilometer entfernten 100-Seelen-Dorf Böllen bei Schönau die deutsche Mannschaft. Nirgendwo in Deutschland wird das Seil so ausdauernd und brutal gezogen wie im Südbadischen.

Tauziehen hat etwas Rückwärtiges. Schon die Ausstattung der kernigen Athleten wirkt mittelalterlich: Breite Ledergürtel sind um die Taillen gelegt, zum Schutz des schwer beanspruchten Rückens. Oberkörperschoner, die über das Trikot genäht sind, verhindern das Wundreiben der Haut. Dicke Wollsocken verhüllen die strammen Waden. Die klobigen Spezialschuhe sind mit Stahlplatten versehen, damit man sich besser in den Rasen einstanzen kann. Und die Hände sind extrem geharzt. „Dafür hat jede Mannschaft ein Geheimrezept“, sagt Boschert. Die Deutschen bevorzugen einen Mix aus Harz und Brühpech. Mit Brühpech wurden früher geschlachtete Schweine eingerieben, um die Borsten zu entfernen.

Es gibt unterschiedliche Stile. „Die Schweizer und Schweden ziehen offensiver“, erklärt Boschert, „sie ziehen gleich mit viel Druck“. Die Briten und Iren hingegen ziehen defensiver, sie halten das Seil minutenlang in der gleichen Position und zermürben so ihre Gegner. Deswegen lieben sie tiefe, wassergetränkte Böden. Der Rasen in Duisburg ist sandig. „Darauf ziehen wir am liebsten“, sagt Boschert. Wie die Schweizer gehören die Deutschen eher zu den Technikern.

Ein Manko allerdings haben die Deutschen: Sie sind zu jung. „Richtig gut wird man erst mit Anfang 30“, sagt Boschert. Erfahrung helfe in kritischen Situationen. Wie man Kraft und Ausdauer in bestimmten Situationen einzusetzen hat, das lernt man erst nach langen Jahren. Es hat auch schon Dopingfälle gegeben im Tauziehen. „Anabolika und Epo wären ideale Dopingmittel für uns“, sagt Boschert. Die aktuelle Generation aber dope nicht, glaubt er. „Wir sind alles Idealisten und haben Freude am Wettkampf.“

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