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Sport: Das Selbstbewusstsein der Kanarienvögel

In der Heimat steht fest: Der Weltmeister 2006 kann nur Brasilien heißen

Die brasilianische Nationalhymne ertönt, ein zackiger Marsch. Die Nationalspieler stehen stramm. Langsam fährt die Kamera die Gesichter der brasilianischen Starspieler ab: Ronaldo, Ronaldinho, Maradona. Halt, stopp, aus! Diego Maradona? Was macht der Argentinier denn im Trikot des Erzrivalen? Ein Albtraum, und was für einer! Der schweißgebadete Maradona sitzt aufrecht im Bett, er schaut an sich herunter. Er trägt das blau-weiße Trikot Argentiniens. Gott sei Dank! Doch auf seinem Nachttisch steht ein halbes Dutzend Dosen eines brasilianischen Softdrinks. „Ich glaub, ich hab zuviel ,Guaraná Antarctica’ getrunken“, seufzt Maradona.

Mit diesem Fernsehspot ist dem Getränkehersteller Antarctica ein Coup gelungen. Der hat freilich in Argentinien für ernsthafte Verstimmungen gesorgt. Wie Maradona dazu käme, sich das Trikot der Brasilianer überzustreifen?, fragten aufgebrach- te Kommentatoren. Doch in Brasilien fühlt man sich bestätigt. „Wenn selbst Diego Maradona unser Hemd trägt, was soll denn dann schief gehen?“, fragt Leonardo Costa. Der 29-Jährige steht mit einem Pinsel in der Hand am Largo das Neves, einem historischen Platz in Rio de Janeiro. Die hundertjährige Straßenbahn, eine der Touristenattraktionen der Stadt, umkreist das Rund. Es ist 18 Uhr und die Sonne bereits untergegangen. Costa, der kurzgeschorene Haare trägt und ein bisschen an den Stürmer Adriano erinnert, arbeitet gewöhnlich als Archivar in Rio de Janeiros Nationalbibliothek. Er ist nach Feierabend herbeigeeilt, um sich dem aktuellen brasilianischen Volkssport zu widmen: Malern.

Straßen, Fußwege, Hauswände, Laternen, Blumenkästen – alles wird in die Nationalfarben Brasiliens getüncht. Gelb, grün, blau, weiß: Die Stadt gleicht einem Farbkasten. Die bunte Nationalfahne flattert an Häusern, Bussen und Kirchen. Hinzu kommen die gelb leuchtenden, zumeist gefälschten Fußball-Nationaltrikots, die hier fast jeder Dritte trägt. Ohne Unterlass wird man an die Worte des englischen Fußballjournalisten Alex Bellos erinnert: „Dieses Gelb ist so stark, dass es die Brillanz und Üppigkeit des brasilianischen Stils perfekt zusammenfasst.“

Das sehen die Brasilianer ihrerseits nicht anders und weder auf T-Shirts noch Mauern fehlt ein Satz, der ihre Erwartungen an die nächsten vier Wochen zusammenfasst. Leonardo Costas hat ihn auf die brasilianische Fahne geschrieben: „Brasil, rumo ao Hexa“ – Brasilien, auf dem Weg zum Sechsten.

Gemeint ist der sechste Weltmeistertitel für Brasilien, dessen Gewinn man unter dem Zuckerhut schon als selbstverständlich erachtet. Wenn man dieser Tage in den Läden einer Fruchtsaftkette Trinkgeld gibt, ruft die gesamte Belegschaft das Credo. Selbst aus der Küche hört man noch jemanden brüllen. Denn nun, nachdem man die ersten Vorstellungen der Rivalen verfolgt hat, besteht kein Zweifel mehr: „England ohne Kraft, Argentinien mit Glück“, lautet die Einschätzung der meisten Beobachter. Deutschland hat fast niemand auf der Rechnung. „Fantasielos“, lautet das vernichtende Urteil über Klinsmanns Elf.

Ganz anders natürlich die Bewertung der Kanarienvögel, wie die brasilianische Auswahl wegen ihrer bunten Uniform heißt. Die hübsche Bedienung einer Bar am Largo das Neves erläutert: „Wenn nur zwei der vier Spieler des magischen Vierecks funktionieren, sind wir unschlagbar.“ Sie spricht von Ronaldinho, Ronaldo, Kaká und Adriano.

Man glaubt hier nicht daran, dass Brasilien Weltmeister wird. Man weiß es. Vom Fußball, dem Futebol, was in Brasilien wie „Futschibou“ ausgesprochen wird, scheint das Wohl und Wehe einer ganzen Nation abzuhängen. Der Anthropologe Roberto da Matta hat gerade ein Buch über Fußball veröffentlicht. Er erläutert: „Das brasilianische Team ist Brasilien. Ja, mehr noch: Es ist das Beste, was dieses Land zu bieten hat. Ohne den Fußball hätten wir keinen Beweis dafür, dass wir überhaupt etwas können.“

Langsam füllt sich der Largo das Neves mit Menschen. Freunde von Costa, Nachbarn, Ladenbesitzer. Sie bringen Schnüre, Plastikplanen, Leitern und Farbe mit. Alle haben für die Anschaffungen gespendet. Jeder soviel er wollte. Die Tradition des Straßenschmückens existiert in Rio seit der Weltmeisterschaft 1970. Mittlerweile gibt es mehrere Wettbewerbe um die schönste Straße. „Das Ganze funktioniert ohne Organisation“, erläutert Costa. „So wie Brasilien: spontan und liebevoll.“ Meist werde bei Nacht oder in den Morgenstunden gearbeitet, wenn der Verkehr nicht so stark ist.

Am Largo das Neves schneiden sie jetzt die grünen, gelben, weißen und blauen Plastikplanen in Streifen und knoten sie an den Schnüren fest. Der Platz wird überspannt, ein brasilianischer Himmel entsteht. Zwei Freunde Costas zeichnen überlebensgroße Karikaturen auf die Straße: Ronaldinho, der wie eine Maus aussieht, Ronaldo mit Bierbauch, Trainer Parreira, der mit sechs Sternen jongliert. Die Autofahrer, die die Straße heruntergebrettert kommen, steigen auf die Bremsen. Nur nicht den Haarschopf von Ronaldinho streifen, mit dessen Verspielt- und Bescheidenheit sich viele Brasilianer identifizieren. So gut wie alle Trikots, die man sieht, tragen seine Nummer, die 10.

Der aus dem Süden Brasiliens stammende Ronaldinho hat im Heimatland den Beinamen Gaúcho, damit man ihn besser von Ronaldo unterscheiden kann, der Fenômeno gerufen wird. Dessen Auseinandersetzung mit Staatspräsident Lula hielt die Brasilianer zuletzt in Atem. Lula hatte während einer Videokonferenz mit den Nationalspielern gefragt, ob Ronaldo tatsächlich dick sei. Der Nationalstürmer war als einziger Spieler nicht an dem Gespräch beteiligt, und als er von der Frage des Präsidenten hörte, entfuhr es ihm: „Man sagt, ich sei dick. Genauso sagt man, er (Lula) trinke wie ein Loch.“ Brasilien spaltete sich über der Frage, wer hier wem respektlos gegenüber gewesen sei. Umgehend schrieb der Präsident einen Brief an Ronaldo, in dem er beteuert, den Stürmer nach wie vor „sehr lieb“ zu haben.

Heute wird Brasilien ab 16 Uhr (Ortszeit) still stehen. Leonardo Costa darf um 14 Uhr nach Hause gehen, die Bibliothek wird ebenso schließen wie Supermärkte, Banken und öffentliche Einrichtungen. Die Industrie rechnet mit ähnlichen Produktionsausfällen wie bei der WM 2002. Damals ging allein die Autoproduktion um 10,5 Prozent zurück. Doch die Seleção, die Auswahl, spielen zu sehen, ist in Brasilien ein Menschenrecht. Was passieren würde, wenn sie mal verlieren sollten, mag man sich gar nicht ausmalen. Doch laut einer – in Brasilien veröffentlichten – Umfrage glauben mittlerweile selbst 40 Prozent der Argentinier, dass Brasilien Weltmeister wird. „Wahrscheinlich gehört auch Maradona dazu – heimlich“, sagt Leonardo Costa und taucht den Pinsel in seinen gelben Farbtopf.

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