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Sport: Ein Leben in Gottes Hand

Schulden, keine Arbeit und ein reines Gewissen: Der Weg des einstigen Turn-Olympiasiegers Andreas Wecker

Gleich neben dem schweren Esstisch, auf dem sechs Orangen in einer Schale liegen, steht der Fernseher, darunter der DVD-Player. „Wir haben die ganze Bibel-Geschichte auf DVD. Das sehen wir sehr oft“, sagt Andreas Wecker. In die Wand ist ein Kamin eingelassen, aus einer hüfthohen Box plätschert gefühlvolle Musik. „Jason Upton, ein Amerikaner“, sagt Wecker. „Er hat prophetische Gaben.“ Solche Musik, sagt er, läuft die ganze Zeit bei ihm.

Vom Wohnzimmer kommt man in einen Wintergarten. Wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man den Wandlitzsee; heute ist er zugefroren, Schwäne watscheln übers Eis. Der Garten grenzt ans Ufer. Andreas Wecker deutet mit einem Kopfnicken zu den Schwänen. „Gestern war ich bei ihnen“, sagt er. „Sie ließen sich von mir streicheln. Aber sie haben nicht mich begrüßt. Sie haben Gott in mir begrüßt. Tiere beten ständig.“ Wecker redet sanft, aber bei solchen Sätzen mit festem Unterton.

Es ist angenehm warm in dieser Wohnung, im zweiten Stock eines Drei-Familien-Hauses, das so idyllisch in einer Nebenstraße direkt am Ufer liegt. Irgendwo in dieser Wohnung lag einst der Koffer mit den ganzen Medaillen. Der Koffer war mal „mein Heiligtum“, sagt Wecker. Er war die Erinnerung an sein früheres Leben, an Andreas Wecker, den Turn- Olympiasieger von 1996, den großen Sportler. Jetzt sind die Medaillen weg, versteigert bei Ebay. Gott habe ihn zum Verkauf der Medaillen aufgefordert, sagt Wecker. Gott habe zu ihm geredet, als kein Geld für die Miete da war. Aber Wecker hatte an ihnen festgehalten, „von so was trennt man sich nicht so leicht“. Aber dann waren drei Monatsmieten fällig, und Gott habe gefragt: „Was habe ich dir vor drei Monaten gesagt?“ Da gab der 36-Jährige die Medaillen zu Ebay. Jetzt, sagt er, könne er für eine Weile die Miete bezahlen. Vor allem aber fühlt er sich wieder mit Gott vereint. „Ich habe mein Leben in Gottes Hand gelegt“, sagt er. „Seither bin ich völlig frei.“

Man könnte diese Szenen zu einem groben, verzerrten Bild zusammenfassen. Man könnte damit leicht das Bild eines abgedrehten Menschen zeichnen. Aber so redet keiner ohne eine brutale Vorgeschichte. Der traurige Höhepunkt von Weckers Vorgeschichte ereignete sich an einem Frühlingstag 2004, als der Olympiasieger mit seinem Sportwagen auf der A 10 mit Tempo 200 auf einen Brückenpfeiler zurasen wollte. Ein heftiger Aufprall, dann wäre alles vorbei, dachte er. Er hatte Geldsorgen, fühlte sich ruiniert durch Scheidung, Alimente für seine Tochter, Schulden für eine Eigentumswohnung, durch ein Wellnesscenter in Wandlitz, das nicht gut lief. Er hatte seine Karriere beendet, er hatte keine Sponsoren mehr. „Aber ich konnte vor dem Pfeiler nicht mehr steuern“, sagt Wecker. Er hat die Hände geballt, als würde er wieder ein Lenkrad umkrallen. Er versucht eine Bewegung, es klappt nicht. Sein Blick ist triumphierend.

Er fuhr auf einen Parkplatz, und vor seinem Auge „lief alles nochmal in Zeitlupe ab“. Aber dann durchströmte ihn ein „warmes Gefühl“. Damals konnte er das nicht einschätzen, aber jetzt ist er sicher: „Der Heilige Geist hat verhindert, dass ich das getan habe.“ Er wusste, dass er gerade irgendein Zeichen erfahren hatte, aber noch konnte er nicht damit umgehen. Bis er in seinem Wellnesscenter auf Mitglieder der „Gemeinde Gottes“ traf, einer Freikirche, die in der Tradition einer Erweckungsbewegung aus den USA steht. „Die nehmen das neue Testament wörtlich“, sagt Thomas Gandow, der Sektenbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg. „Die glauben, dass jeder von ihnen im direkten Kontakt mit dem Heiligen Geist steht.“ Mitglieder dieser Gruppe nahmen Wecker und seine damalige Freundin mit in ihre Kirche in Berlin. Hier, sagt Wecker, fanden beide zu Gott. Inzwischen sind sie verheiratet. Und beide folgten einer Gruppe, die sich von der „Gemeinde Gottes“ abgespaltet hat und die sich nun „Neue Nazareth-Kirche e.V.“ nennt. „Ich habe die Fähigkeit erlangt, im Namen Gottes durch mein Gebet zu heilen“, sagt Wecker.

Er sitzt im Wintergarten, mit längeren Haaren als früher und einem Blick, der sehr fixierend sein kann. Er redet von Gott und Satan, von Dämonen und Bibelzitaten, und er klingt missionarisch, vor allem aber begeistert. Andreas Wecker, so scheint es, hört sich auch selber zu. Für ihn ist es ja die Geschichte einer Rettung. Einer hat für sich einen Weg gefunden, wie Schulden, Schufa-Einträge und drängende Gläubiger zu irdischen Belanglosigkeiten werden. Wichtig ist nur Gott.

Irgendwann blickt er zum Ufer, wo ein alter Mann auf einer wackeligen Leiter steht und Äste schneidet. „Mein Nachbar“, sagt Wecker. Den Nachbarn habe er mal geheilt, berichtet er. Vor 15 Monaten sei das gewesen, der Nachbar hätte am Boden gelegen, vermutlich mit Herzbeschwerden. Er sollte in Kürze im Krankenhaus einen Bypass erhalten. „Gott gab mir die Vollmacht, und ich sagte zu ihm: Ich möchte Dich heilen. Ich bete für Dich um ein neues Herz.“ Der Mann sei wieder zu sich gekommen, ins Krankenhaus gegangen und dann, Wecker richtet sich beim Erzählen auf, „dann ist er zu mir gekommen und hat gesagt: ,Die Ärzte sagen, das Herz sei wie neu.‘“ Die Bypass-Operation habe nie stattgefunden.

Wecker redet viel von Wundern; entweder hat er sie selber erlebt oder sie wurden ihm berichtet. In Spanien habe er beobachtet, wie ein Mann, der 25 Jahre an den Rollstuhl gefesselt war, durch Heilung aufsprang und tanzte. „Ich habe geheult“, sagt Wecker. Hinter ihm steht sein Computer. Das Standbild zeigt Jesus mit einem Lamm in den Händen.

Seine Frau taucht auf. Sie hat ihre Tochter dabei. Das Kind ist fünf, es zeigt stolz seinen pinkfarbenen Gürtel. Die Tochter weiß nicht, dass sie nicht krankenversichert ist. „Weshalb sollte sie das sein?“, fragt Wecker und beugt sich vor. Weil ihr etwas passieren könnte, deshalb. Da sagt Wecker sanft: „Gott passt auf, dass ihr nichts passiert.“ Die Tochter stürzte mehrfach die Treppen runter, „nie ist was passiert“. Keiner im Hause Wecker ist krankenversichert. „Wir haben auch keine Renten- oder Unfallversicherung“, sagt er fast stolz. „Geld spielt bei uns keine Rolle.“

Weder Andreas Wecker noch seine Frau, eine frühere Tänzerin am Theater, arbeiten. Sein definitiv letztes Schauturnen hat der Olympiasieger vor drei Wochen gemacht, danach warf er den Minibarren, den er immer dabei hatte, in den Müll. Er habe sich, sagt er, bei diesen Shows nicht komplett auf Gott konzentrieren können. „Der Herr wird uns zeigen, wenn wir arbeiten sollten“, sagt er. Aber noch fehlten diese Zeichen. „Gott bereitet uns auf etwas vor, dafür benötigen wir Zeit.“

Es gab Angebote zum Arbeiten, Bekannte wollten helfen, doch Wecker hat allen abgesagt. Seine Schulden kümmern ihn nicht. „Jesus wird unsere Schulden begleichen“, sagt er. Aber irgendwie müssen doch Miete, Essen und Kleidung bezahlt werden – und Medaillen zum Versteigern gibt es nicht mehr. Die Familie der Gläubigen helfe, sagt Weckers Frau. „Wir bekommen so viel Essen und Geld, dass wir viel davon weiterreichen.“ Eine andere Erklärung gibt sie nicht.

Für Sektenexperte Gandow ist Wecker ein bemitleidenswerter Mann, einer, „der völlig fehlgeleitet ist“. Opfer einer Kirche, bei der die Grenze zwischen Religion und Magie überschritten wird. „Die haben Allmachtsphantasien.“ Wecker, der Prominente, werde eingespannt. „Wenn er erzählt, klingt es besonders glaubwürdig.“

Wecker kennt diese Vorwürfe. „Da steh’ ich drüber. Vergebung ist das Größte, was an Kraft freigegeben wird.“ Ein paar Minuten später piepst sein Handy. Er hat eine SMS erhalten, von einem Freund. Wecker schaut auf das Display, dann sagt er triumphierend: „Hier, das zählt.“ Er zeigt das Handy. Die Nachricht lautet: „PREISET DEN HERRN.“

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