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Sport: Ein Stockwerk tiefer

Sledgehockey ist Eishockey im Sitzen – in Turin spielen die Deutschen erstmals bei den Paralympics

Seinen ersten Sitzschlitten hat Gerd Bleidorn gleich zerlegt. „Früher war das Ding noch aus Holz – und ich tierisch schnell und ahnungslos, wie man bremst.“ Zehn Jahre nach dem Bodycheck mit der Bande ist der körperbehinderte Leistungssportler Spieler im Nationalteam, und Sledgehockey mit wendigen Sitzschlitten und den zwei Schlägern paralympisch. „Damals fuhren wir Gogos, heute Ferraris“, so sieht das der breitschultrige 47-Jährige aus Wedemark bei Hannover, der als Jugendlicher beim verunglückten Trittbrettfahren mit der Eisenbahn beide Unterschenkel verlor.

Am gestrigen Sonnabend haben Vertreter des Bundesinnenministeriums und des Bundestages die deutsche Nationalmannschaft am Flughafen in Frankfurt am Main offiziell mit den anderen deutschen Paralympics-Teilnehmern verabschiedet. Die Eishockey-Cracks mit Handicap im schwarzrotgoldenen Shirt feiern bei den Weltspielen der behinderten Sportler vom 10. bis 19. März in Turin mit ihrer Sportart eine Premiere. Erstmals treten die Deutschen an beim Sledgehockey, einer der fünf Winterdisziplinen, in denen sich die insgesamt 600 Paralympics-Athleten mit 700 Betreuern aus 40 Nationen in Italien auf Schnee und Eis messen. „Mitte der 90er war Sledgehockey noch ein Dödelsport“, sagt Bleidorn, Prokurist und Technikleiter beim Informationsdienstleiter KID, der für die Rollstuhlsportgemeinschaft (RSG) Hannover spielt. „Ein Kumpel, damals Bodyguard von Gerhard Schröder, hatte mich angesprochen, da bin ich dann zum Ausprobieren mitgezockelt.“

Bleidorn war damit einer der ersten deutschen Schlittenhockey-Spieler und ist heute bereits ein Veteran. Wer es bis zu den Paralympics geschafft hat, „muss schon ein bisschen verrückt sein“, sagt Bleidorn, der, wie er das ausdrückt, schon drei Häuser und drei Frauen hinter sich gelassen hat. Die Quälerei in den engen, vier Kilo wiegenden Schlitten, das Gezottele, um das Holzbein in den engen Nationalmannschaftsschuh zu kriegen, das viele private Geld und die viele geopferte Freizeit nach der Arbeit. Und nicht zuletzt das Training selbst: im „Icehouse Mellendorf“ bei Hannover um Mitternacht. Die deutsche Behinderten-Nationalmannschaft darf oft erst dann aufs Eis, wenn alle anderen fertig sind. Nebenan in der „Icehouse-Disco“ tanzen die Dorfbewohner schon beim Bier zu Techno, am Eis stellen die Männer ihre Prothesen und Rollstühle beiseite.

Viele haben schon vor dem Auto- oder Brandunfall Sport getrieben, wie Kapitän Marius Hattendorf, 26, von den Hannover Scorpions. „Hatti“, wie sie ihn alle nennen, ist mit 17 beim Trampen von einem unvorsichtigen Autofahrer auf unerwünschte Weise mitgenommen worden, sein Bein hat er noch durch die Luft fliegen sehen – hinterher kam er nicht mehr, scherzen seine Mitspieler. Behinderte machen gern böse Witze über sich selbst. „Für mich gab es nur die Entscheidung: Aufhängen oder Gas geben“, sagt „Hatti“, der ein frisches Paralympics-Tattoo am Oberarm hat. Früher hat er gefochten, mit 17 kam er zum Sledgehockey, jetzt spielt er mit der 17 auf dem Rücken. Sledgehockey wird nach denselben Regeln gespielt wie Eishockey, nur ein Stockwerk tiefer, weil eben alle sitzen. Die Sitzschalen aus Kunststoff haben zwei enge Kufen unten dran, mit Gewichtsverlagerung gehen die Männer in die Kurve. Den ersten Schwung geben sie mit dem Hintern. Die Schläger halten sie links und rechts, spielen den Puck unten durch den Schlitten hin und her, um sich dann wieder mit den mit Eispickel besetzten Unterseiten der Schläger wie Langläufer vom Eis ab- und vorwärts zu stoßen. „Einen Unterschied gibt es zum Eishockey“, sagt Bleidorn. „Beinstellen gibt es bei uns nicht.“

Für Trainer Michael Gursinsky und Kotrrainer Wolfgang Kempe ist es nicht nur wegen der Charakterköpfe und der Übungseinheiten um Mitternacht etwas Besonderes, das Team zu trainieren. „Wir sind Amateure, und das ist die Nationalmannschaft.“ Ein deutsches Nationalteam gibt es erst seit fünf Jahren. 80 professionell eingestellte Spieler zählt man im Land, acht Nationalteams trainieren weltweit. Ausrüstung und Reisen zu Spielen nach Japan, Tschechien oder Skandinavien zahlen die Spieler des Europameisters Deutschland selbst. Immerhin ermöglicht das Radisson SAS als Sponsor einiges. „Seit Oktober bekommen wir auch Unterstützung vom Olympiastützpunkt“, sagt Bleidorn. Zum Beispiel eine Kamera, mit der die Trainer nach dem Wettkampf Spielsituationen am Computer analysieren können. Bis vor wenigen Wochen hat das Nationalteam noch in Colorado Springs trainiert – in Nordamerika investieren längst große Firmen als Sponsor in Schlittenhockey. Die Spieler hüten ihre CDs mit den vergangenen Spielen in Amerika, zum Überprüfen von Taktik und Technik.

Bei den Paralympics wäre es für die Deutschen schon ein Erfolg, wenn sie nach den Spielen gegen die USA, Schweden und Japan das Halbfinale erreichen, sagt Gerd Bleidorn. Doping gebe es nicht, „schon weil wir nicht wie die Österreicher bei den Olympischen Spielen aus dem Fenster springen können“. Auf Geld kommt es den Jungs nicht an, das geht schon deswegen nicht, weil sich bei den Paralympics alle Sieger einen bereitgestellten Geldbetrag teilen müssen. Und wenn das bundesdeutsche Sledgehockeyteam ohne Medaille wieder nach Hause fahren müsste, wäre das auch „kein Beinbruch“, scherzt Gerd Bleidorn: „Wenn das nichts wird, hören wir mit Sledgehockey auf und werden Eiskunstläufer.“

Annette Kögel[Mellendorf]

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