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Immer im Gewimmel: René Milczynski ist Jugendleiter bei Askania Coepenick.

© Georg Moritz

Fußball-Jugend im Amateurbereich: Berlins Klubs gehen die Trainer aus

Fußball ist populär wie nie, vor allem bei den Sechs- bis Zwölfjährigen. Viele Kinder wollen ihren WM-Idolen nacheifern. In Berlin müssen Vereine aber immer öfter Kinder abweisen, weil Trainer fehlen.

Ist schon ein bisschen spät an diesem Nachmittag. Der Verkehr, und dann hat er auch noch eine Spielerin abgeholt. René Milczynski muss sich jetzt beeilen. Er greift seine Tasche, verschwindet in der Umkleidekabine und tauscht die locker sitzende Jeans, den blauen Kapuzenpullover und die Turnschuhe gegen einen schwarz-roten Trainingsanzug und schwarze Fußballschuhe. Modell Tausendfüßler, die für Kunstrasen. Keine fünf Minuten später kommt er als Erster aus der Kabine, gefolgt von seinen Kindern, alle zwischen neun und dreizehn Jahre alt.

René Milczynski, 28, ist Trainer und Jugendleiter von Askania Coepenick, einem Amateurverein im Berliner Südosten mit 253 Mitgliedern. Er betreut die U13 und die U11. D- und E-Jugend also. Auf dem Platz an der Wuhlheide wimmeln 16 Kinder umher an diesem Nachmittag im April, der sich so nach April anfühlt. Schnee, Sonne, Regen, Wind. Vier Jahreszeiten in einer Stunde. Das Vereinsgelände ist ein kleines Idyll. Kräftige Kiefern umranden den Hauptplatz, weiter hinten liegt ein Kunstrasenfeld. Die Kinder, die hier Fußball spielen, können sich glücklich schätzen. Nicht wegen der Kiefern, nicht wegen des Idylls, sondern weil sie von Milczynski nicht abgelehnt wurden. „Zuletzt musste ich Eltern immer häufiger sagen, dass wir für ihre Kinder keinen Platz bei uns haben“, erzählt der Jugendleiter und wird auf einmal ernster. Das kommt nicht oft vor. René Milczynski, der Mann mit dem rundlichen Gesicht, der kleinen, gedrungenen Statur und den rotbraunen Haaren, lacht sonst gern und viel. Nur jetzt nicht, jede Abweisung tut ihm weh. „Ich will keinem Kind die Möglichkeit nehmen, bei uns Fußball zu spielen.“

30 Stunden die Woche - ehrenamtlich

Aber es geht nicht mehr anders. Das Problem ist: Milczynski fehlen die Trainer. Längst sind es nicht mehr genug, um den vielen Anfragen von Eltern gerecht zu werden. „Um alle Kinder bei uns aufnehmen zu können, bräuchten wir mindestens vier zusätzliche Trainer“, sagt Milczynski. Achtzehn Übungsleiter kümmern sich bei Askania Coepenick um die rund 180 Kinder und Jugendlichen. „Das geht vom Verhältnis gerade noch so“, sagt Milczynski. Vor allem bei den Kleinfeld-Mannschaften unterhalb der C-Jugend sind die Kapazitäten begrenzt. Mehr als 16 Kinder pro Mannschaft macht kaum Sinn. Schließlich wollen alle am Wochenende auch spielen.

Zu wenige Trainer, zu viele Kinder. Dieses Problem kennen fast alle Berliner Vereine unterhalb von Hertha BSC oder dem 1. FC Union. In den Altersklassen zwischen sechs und zwölf Jahren ist der Ansturm besonders groß. Die Bereitschaft, sich im Ehrenamt zu engagieren, sinkt, glaubt Milczynski, der sich über jeden Freiwilligen freuen würde. Nur es meldet sich niemand. Job, Familie, Freunde – nicht jeder ist bereit, so bedingungslos seine Freizeit zu opfern wie er. Über 30 Stunden pro Woche sind eher Regel als Seltenheit. Ehrenamtlich. Abends, wenn er nach Hause kommt, schreibt er zusätzlich noch an einem Jugendkonzept. Morgens, kurz nach vier, verschickt er schon wieder SMS.

René Milczynski würde ja noch mehr Zeit in sein Hobby investieren, wenn da nicht die Arbeit wäre. Er ist Fernmeldeelektroniker bei den Berliner Verkehrsbetrieben, Schichtdienst. Dazu zwei bis drei Mal pro Woche Training, am Wochenende ein Spiel. Welche Partnerin, welche Familie macht das auf Dauer mit? Milczynski ist ledig.

Fußball wird immer dominanter

Bei Askania würden sie gern noch eine Mädchenmannschaft aufbauen. Anfragen gibt es genug, Trainer nicht. Selbst wenn sich die Zahl der Trainer verdoppeln ließe, das Problem wäre nicht gelöst. Fußball ist gerade bei Kindern so beliebt, dass er im Amateurbereich zwangsläufig an Grenzen stoßen muss. Andere Sportarten können da nicht mehr mithalten. Nicht bei den Mitgliederzahlen, nicht unter wirtschaftlichen Aspekten und schon gar nicht bei der Fernsehpräsenz. 2014 schauten 34,6 Millionen Menschen das WM-Finale, ein Jahr zuvor waren sieben der zehn meistgesehenen TV-Sendungen in Deutschland Fußballspiele. Klubs wie der FC Bayern oder Borussia Dortmund nehmen Millionenbeträge durch Trikotverkäufe ein. Kinder tragen stolz die neuesten Modelle, Arjen Robben steht dann auf ihrem Rücken oder Marco Reus. Trikots von Spitzenhandballern oder Eishockeyspielern sucht man auf Schulhöfen meist vergeblich.

Fußball war schon immer der Deutschen liebstes Spiel, nur ging die Schere zu den restlichen Sportarten noch nie so weit auseinander, wie es gerade der Fall ist. Im Jahr 2014 musste der Deutsche Olympische Sportbund einen Mitgliederrückgang bei den Sieben- bis Vierzehnjährigen vermelden. In dieser Altersklasse konnten sich 3,2 Prozent weniger Kinder und Jugendliche für olympische Sportarten wie Leichtathletik, Schwimmen, Handball, Tennis oder Turnen begeistern als im Jahr zuvor. Die Verbände werben oft vergeblich um Kinder.

Rekordjahr 2014 in Berlin: 307 neue Jugendmannschaften

Trainier wie die Großen, hier die Fußball-Nationalmannschaft bei einer Einheit Ende März in Georgien - davon träumen auch viele Mädchen und Jungen in Berlin.
Trainier wie die Großen, hier die Fußball-Nationalmannschaft bei einer Einheit Ende März in Georgien - davon träumen auch viele Mädchen und Jungen in Berlin.

© Arne Dedert/dpa

Der Berliner Fußball-Verband (BFV) muss keine Werbung betreiben. Für den BFV war 2014 ein Rekordjahr. 307 neue Jugendmannschaften meldeten sich an, das sind um die 5000 Kinder. Insgesamt nehmen in dieser Saison 2193 Jugendmannschaften am offiziellen Spielbetrieb teil. Mancherorts nimmt die Entwicklung skurrile Züge an. Beim FC Viktoria 1889, dem Klub mit der größten Jugendabteilung Deutschlands, sind zehn Mannschaften der Altersklasse neun bis zehn Jahre, der E-Jugend, angemeldet. „Mit den Anfragen, die es gab, hätten wir auch noch eine elfte aufmachen können,“, sagt der Trainer der zehnten Mannschaft.

Bernd Schultz, der Präsident des BFV, glaubt, dass der Mitgliederanstieg auch mit dem Erfolg der deutschen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Brasilien zu tun hat. „Aber auch in den Berliner Vereinen wurden mit viel Engagement herausragende Rahmenbedingungen geschaffen“, sagt Schultz. „Schön, dass immer mehr Kinder und Jugendliche den Weg zum Fußballsport finden.“ Andere Sportverbände dürften diese Begeisterung kaum teilen. Fußball hat sich zu einer Pflanze entwickelt, einer mit riesigen Blättern, in deren Schatten die übrigen Spezies nur mühevoll überleben.

"Vielleicht müssten die anderen Sportarten mehr Präsenz zeigen"

René Milczynski versucht, seine Kinder für verschiedene Sportarten zu begeistern. Manchmal geht er mit ihnen Bogenschießen, manchmal Kanu fahren. Nicht, um sie vom Fußball wegzubringen, das wäre ja verrückt. Er will nur zeigen, dass es noch andere Sachen gibt, die auch beim Fußball hilfreich sein können. Bogenschießen schult die Koordination und die Konzentration. Kanu fahren stärkt das Mannschaftsgefühl. Macht einer im Boot einen Fehler, gerät das ganze Team ins Wanken.

Askanias Trainer bieten zusätzlich in einer Köpenicker Schule eine Fußball AG an. Viele Kinder finden darüber den Weg zu Askania. Der Fußball holt die Kleinsten schon von der Schule ab, wie eine fürsorgliche Mutter. Die anderen können dagegen nur schlecht aussehen. Die Handballer und die Leichtathleten. Die Turner und die Schwimmer. Sie sind scheinbar zu Rabeneltern geworden. Oder ist das zu einfach? AGs all dieser Sportarten werden laut Milczynski an der Köpenicker Schule nicht angeboten. „Vielleicht müssten die anderen Sportarten mehr Präsenz zeigen“, sagt er. „Gerade in den Schulen.“

Plan in Spandau: Eltern stärker einbinden

Er, der Fußballer, glaubt, dass die aktuelle Entwicklung irgendwann seinem Sport schaden könnte. In Berlin sind Platzverfügbarkeiten immer ein Thema. Wo sollen all die Junioren-Teams trainieren? Gerade kleinere Vereine verfügen oft nur über ein, zwei Felder. Und dann bleibt da die Trainerproblematik. Im Berliner Südosten gibt es sie wie in Mitte oder im äußersten Westen der Stadt. Bei Blau-Weiß Spandau klagt Jugendleiter Andreas Kaminsky über die gleichen Nöte wie sein Kollege René Milczynski. Kaminsky, Jahrgang 1958, ein kräftiger, schlanker Mann mit raspelkurzen Haaren, musste um die Weihnachtszeit viele Eltern enttäuschen. „Wir können ihr Kind nicht aufnehmen, tut mir leid“, sagte er und meinte es auch so. Umgekehrt gab es oft weniger Verständnis. Manche Eltern wurden laut, vergriffen sich im Ton. Kaminsky, pensionierter Polizeibeamter, blieb ruhig. Von Berufs wegen.

Spandau ist eine Berliner Fußball-Hochburg, zirka zehn Vereine ballen sich hier auf engem Raum. Das Angebot ist hoch, die Nachfrage höher. Freie Plätze in den Jugendteams gibt es nur wenige. Die Anlage von Blau-Weiß Spandau liegt an einer befahrenen Straße. Ein Kunstrasenplatz, das war’s. Kaminsky hat für das Treffen eine Eckkneipe genau gegenüber gewählt. Es ist noch nicht ganz Mittagszeit, er braucht jetzt erst einmal einen Kaffee. „Wissen Sie“, sagt Kaminsky, „ich versteh das auch nicht. Manche Eltern, die wollen ihren Vierjährigen schon zum Fußball anmelden.“ Klar, es gibt diese Altersklasse. G-Jugend, von vier bis sechs Jahren. „Sinn macht das aber nicht“, findet Kaminski. „Die Koordination ist überhaupt noch nicht so da, und die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder ist gering. Im Idealfall müssten sich drei oder vier Trainer um die Kinder kümmern.“ Drei bis vier Trainer, wer kann das schon in Berlin? Blau-Weiß Spandau nicht.

Dem Klub fehlen vier bis fünf Trainer. Anzeigen in Zeitungen schaltet Kaminsky nicht mehr. „Da meldet sich eh keiner.“ Er versucht jetzt was anderes. Sein Plan: Eltern stärker einbinden. Sie, die fast immer mit am Spielfeldrand stehen, sind potentielles Trainer-Rohmaterial. Auch, weil beim Jugendfußball eine Trainerlizenz nicht Pflicht ist. Nur ein polizeiliches Führungszeugnis muss vorgelegt werden. Sportlich betrachtet sind Trainer mit Lizenz natürlich nützlicher für die Entwicklung der Kinder, aber Kaminsky sieht das pragmatisch. „Wenn wir wählerisch wären, müssten wir noch mehr Kinder wegschicken.“

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