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Scheeßel hat 6741 Einwohner, normalerweise. Während der drei Tage Hurricane-Festival sind es 70.000 mehr. In 25.000 Zelten.

© Sören Müller

WM-Nebenschauplatz: Sturmwarnung in Scheeßel

Beim "Hurricane"-Rockfestival in Scheeßel zwischen Hamburg und Bremen wird Musik während der WM zur Nebensache. Zumindest für die holländischen Fans - wenn "Oranje" spielt.

Von Andreas Austilat

Kurz vor halb zwei ist der Videowürfel noch immer dunkel. Jeden Moment muss die Partie Niederlande gegen Japan beginnen. „Sturmwarnung“, sagt der Security-Mann. Die 40 orange gekleideten Zuschauer unter den 400, die auf der Wiese Platz genommen haben, werden unruhig. Der Himmel über dem „Hurricane“, norddeutschem Rockfestival in Scheeßel zwischen Hamburg und Bremen, ist blau – das war er noch nicht oft an diesem Wochenende. Blau-weiß-rote Fahnen hängen schlapp im Wind und Piet van der Felde, ein 29 Jahre alter Chirurg aus Utrecht, wittert eine Intrige.

Alles, was Orange ist, erhebt sich und stimmt Hollands Hymne an. Da, ein kurzes Flackern, plötzlich ein Bild, „Siehst du“, sagt Piet. Er glaubt fest daran, dass Oranje die Übertragung erzwungen hat. Nur dreieinhalb Minuten haben er und die anderen verpasst, es steht null zu null. Warum zahlt jemand 130 Euro Eintritt für ein Festivalwochenende und guckt sich dann Fußball im Fernsehen an? „Das sind meine Jungs“, Piet zeigt Richtung Videowand, „da musst du Prioritäten setzen“. Und Meagan van der Mortel, Studentin aus Groningen, schwenkt die Landesfahne, auf dem Kopf trägt sie eine Oranje-Krone zum Aufblasen.

Die Stimmung ist gut. Obwohl, eigentlich wollte die 23-jährige Meagan „Florence and the Machine“ sehen. Deren Auftritt beginnt um 14 Uhr 45 auf der blauen Bühne, einer von vieren auf dem Gelände der Arena, auf der sonst Sandbahnrennen stattfinden. 14 Uhr 45, das ist mitten in der zweiten Halbzeit. Mal sehen, wie es läuft.

Es läuft so mittel. Holland ist überlegen, Japan aber nicht chancenlos. „Drecksfußball“, ruft einer im schwarzen Shirt mit der Aufschrift „Dropkick Murphys“, während er an der Menge vorbeiläuft. Weil Holland spielt? „Nö“, aber das hier sei doch ein Rockfestival, „Fußball passt nicht hierher“, findet der Junge.

Piet stört das nicht weiter. Piet sagt, nach Scheeßel kommt man nicht nur wegen der Musik, hierher kommt man um sich zu treffen, Freunde wieder zu sehen. Scheeßel ist Festival, Festival heißt Fun, wenn Holland spielt, ist für ihn Fun. Und das gilt offenbar auch für die meisten anderen. Wer sich hier zu Holland bekennt, trägt Zöpfe, hat sich als Frau Antje verkleidet oder mindestens ein Oranje-Shirt am Leib. Und wenn Deutschland spielt, ist das auch Fun? “Du meinst, weil ihr gestern verloren habt?” Piet ist großzügig, „das wird, wirst sehen, wir treffen im Finale aufeinander.“

Inzwischen ist Halbzeit, der Himmel nicht mehr blau, der Wind hat aufgefrischt, und auf der Großbildleinwand zeigen sie noch mal das Tor der Serben gegen Deutschland. Oranje jubelt, manche schwenken Würstchen.

Zweite Halbzeit, drüben müsste jetzt Florence and the Machine beginnen, da trifft Wesley Sneijder. Meagan schwenkt die Fahne, denkt nicht mehr an Florence, hup, Holland hup. Übrigens hat Scheeßel 6741 Einwohner, normalerweise. Während der drei Tage Hurricane-Festival sind es 70.000 mehr. Sie sind gekommen wegen den Strokes, Mando Diao, den Beatsteaks oder einer der anderen 70 Bands, die dieses Jahr am Start sind. Und die meisten wohnen in einem der ungefähr 25.000 Zelte, die das Festival-Gelände umstellen. Zeltet Piet auch oder hat er einen Wohnwagen? Ach ihr Deutschen, könnt von euren Holländer-Witzen nicht lassen. Nein, Piet zeltet auch.

92. Minute, ein Japaner geht zu Boden. Der Schiedsrichter zeigt irgendwohin. Elfmeter, denken alle, jetzt jubeln ziemlich viele Deutsche. Nein, kein Elfmeter. Und dann ist das Spiel vorbei, Florence and the Machine auch. Macht nichts, sagt Meagan. Und Piet will jetzt grillen. Zur Bühne geht er spätestens um halb eins in der Nacht. Dann treten Massive Attack auf.

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