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HAWK-EYE: Folge 12: Lass es weiterregnen

Jedes Grand-Slam-Turnier ist eine kleine Welt für sich. Von Eindrücken, Kuriositäten und kleinen Geschichten am Rande der US Open erzählt an dieser Stelle täglich Anke Myrrhe, live aus New York.

Wenn es regnet, haben auch Journalisten nicht viel zu tun. Sie sitzen herum, überlegen, was sie nun schreiben können, da ja leider draußen gar nichts passiert, worüber man berichten könnte. Einfach nach Hause gehen geht aber auch nicht, denn es kann ja jeden Moment aufhören zu regnen. Solange die angesetzten Matches nicht offiziell abgesagt werden, versuchen sich also alle irgendwie die Zeit zu vertreiben.

Einige arbeiten tatsächlich, sprechen mit dem Turniermanagement oder beschweren sich über die ungünstige Ansetzung der Matches. Die meisten aber hängen einfach herum. Einige der Kollegen verfolgen wie hoch die Exemplare der limitierten Edition der Roger-Federer-Nike-Jacke schon bei Ebay gestiegen sind, von denen die Profis natürlich in weiser Voraussicht gleich in den ersten Tagen mehrere erstanden haben. Schöne Zusatzeinnahme.

Die weibliche Fraktion checkt hingegen noch einmal, ob Adidas nun inzwischen die pink-orangenen Schuhe von Melanie Oudin endlich serienmäßig produziert. Bisher sind sie nirgends zu bekommen. „Ich schreib jetzt mal ‘ne Mail an Adidas“, sagt eine. Irgendwie muss man sich eben beschäftigen. 

Die meisten jedoch schauen einfach unmotiviert auf den Fernseher vor sich, wo abwechselnd Experteninterviews und Aufzeichnungen von Tennismatches laufen. Auf einmal beginnt irgendwo einer zu lachen. Es werden immer mehr. Wer sich bislang irgendwie anders beschäftigt hat, schaut, was es denn da Lustiges zu sehen gibt und schaltet schließlich auf ESPN. Es macht die Runde. Es wird die zweite Runde der US Open 1979 gezeigt, das Match zwischen Ilie Nastase und John McEnroe, einer der wildesten Momente der US Open überhaupt, den sie in den USA heute das „Townhall-Meeting“ nennen, weil über 18 Minuten lang die Zuschauer einen solchen Lärm machten, dass McEnroe und Nastase nicht weiterspielen konnten.

Jetzt schauen alle auf ihren Fernseher. Jeder hatte von diesem Match gehört, aber alle hatten es entweder noch nie oder schon ewig nicht mehr gesehen. Es ist großartig, ein Komödien-Autor hätte kein besseres Drehbuch schreiben können. Nastase, mit 33 Jahren am Ende seiner Karriere, spielt gegen einen erst 20-jährigen McEnroe, der zu diesem Zeitpunkt noch relativ unbekannt ist. 30 Jahre später betrachtet ist das Highlight dieser Aufzeichnung eigentlich, dass der US-Amerikaner, der später für sein ungestümes Verhalten auf dem Platz bekannt wurde, die passive Rolle in diesem Stück spielt. Sein rumänisches Gegenüber ist der pöbelnde Prolet auf diesem Platz.

Alles beginnt im vierten Satz beim Stand von 2:1 für McEnroe, der ein Ass serviert. Nastase beschwert sich aber, er sei nicht bereit gewesen. Der Schiedsrichter bleibt bei seiner Entscheidung, da Nastase schon vorher dauernd etwas zu meckern hatte. Jetzt wird Nastase richtig sauer und die Zuschauer tun es ihm gleich, denn sie wollen den Altstar siegen sehen. Schiedsrichter Frank Hammond diskutiert etwas mit Nastase und gibt dann als Strafe das gesamte Spiel an McEnroe. Der zuckt nur mit den Schultern und spielt die Bälle rüber zu Nastase, der es nicht fassen kann.

Nun werden die Zuschauer zu den Hauptakteuren. Selbst als Nastase endlich bereit ist, das Spiel bei seinem Aufschlag fortzusetzen, beruhigt sich das Publikum nicht. Es macht solchen Krach, dass Nastase nicht weiterspielen will. Das ganze zieht sich, bis Hammond ihn ratlos bittet, einfach trotz der Lautstärke aufzuschlagen. Das Publikum tobt weiter. Hammond brüllt Nastase an: „Geh jetzt aufschlagen, oder ich breche das Spiel ab.“ Das Ganze geht ein paar Mal hin und her, bis der Schiedsrichter schließlich sagt: „Game, Set and Match McEnroe.“ Von da an herrscht Ausnahmezustand auf den Rängen, regelrechte Kämpfe brechen aus, es wird gepfiffen, gebuht und geschrien. Und John McEnroe zuckt wieder einfach nur mit den Schultern. Nicht mal Nastase meckert mehr, alle stehen herum, keiner weiß so recht was jetzt passieren soll.

Dann kommt endlich der Oberschiedsrichter auf den Platz und will zu den Leuten sprechen, doch der beleibtere Frank Hammond bekommt das Mikrofon nicht los, also wird tatsächlich eine Leiter für den Oberschiedsrichter herangeholt, da klettert er drauf und spricht in das Stuhlmikrofon am Sitz des Schiedsrichters. Auch er kann die Menschen nicht beruhigen. Nastase und McEnroe stehen weiterhin herum. Es kommen zwischendurch Zuschauer auf den Platz gelaufen und teilen ihre Meinung mit. Sie werden einfach wieder weggeschickt, keiner scheint sich dafür zu interessieren. Die Szenen sind großartig. Im Pressezentrum herrscht 30 Jahre danach ebenfalls Ausnahmezustand, alle können sich vor Lachen kaum halten. Wenn jetzt draußen Rafael Nadal und Fernando Gonzales anfangen würden zu spielen, von den Medienvertretern würde niemand hingehen. Alle wollen sehen, wie das hier ausgeht. Schließlich steigt der Oberschiedsrichter selbst auf den Stuhl und es wird bei 15:0 McEnroe begonnen. Er gewinnt das Spiel mit 6:2 im vierten Satz.

Getoppt werden diese 18 Minuten großartige Comedy nur noch von John McEnroe höchstpersönlich, der 2009 in der Kommentatoren-Kabine von ESPN sitzt und sagt: „Sehen Sie, ich war der Gute! Erst danach habe ich mir gedacht: Ach so geht das auch und alles begann irgendwie.“ Und er schiebt hinterher: „Ach übrigens, danke, dass ihr eins ausgesucht habt, das ich gewonnen habe.“

Große Unterhaltung. Manchmal sind Regenunterbrechungen doch viel besser als Livetennis.

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