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Mal eben Joshua Kimmich stehen gelassen: Kaoru Mitoma (r.).

© action press/Peter Schatz

Japan-Profi Kaoru Mitoma: Dr. Dribb­ling

In Wolfs­burg führte er Joshua Kim­mich vor, seit einem Jahr macht er das mit der ganzen Pre­mier League. Kein Wunder, schließ­lich hat Kaoru Mitoma sich sogar wis­sen­schaft­lich mit Dribb­lings aus­ein­an­der­ge­setzt.

Von Paul Hoidn

Ein kurzes Zucken mit der Schulter, schon ist er vorbei. Joshua Kim­mich kann nur noch hin­ter­her­schauen, wie der Ball zwi­schen seinen Beinen hin­durch­ge­schoben wird. Die 21. Minute am Samstag in Wolfs­burg ist ein Para­de­bei­spiel für die Fähig­keiten des Kaoru Mitoma. Kurz hinter der Mit­tel­linie bekommt er auf der linken japa­ni­schen Seite den Ball und zieht an. Ein paar Meter vor der Grund­linie ver­zö­gert er und sieht sich Joshua Kim­mich gegen­über. Mit eben jenem kleinen Zucken der Schulter lockt Mitoma Kim­mich in den Zwei­kampf und spit­zelt ihm den Ball durch die Beine.

Spä­tes­tens ab diesem Moment weiß der Deut­sche, dass sein Arbeitstag auf der rechten Abwehr­seite ein schwie­riger wird. Zu dessen Glück kann Mitomas Mit­spieler Hide­masa Morita den Pass nicht kon­trol­lieren, als er frei vor ter Stegen steht. Mitomas Tunnler wäre sonst wahr­schein­lich schneller zum viralen Meme geworden, als Kim­mich ​„Grau­gans“ sagen kann.

Die Aktion war bei weitem nicht die ein­zige, mit der Mitoma am Samstag über­zeugte. Immer wieder suchte er von der linken Straf­raum­ecke den Weg nach innen, spielte einen Dop­pel­pass mit dem japa­ni­schen Stürmer Ayase Ueda, um dann zen­tral vor den Innen­ver­tei­di­gern auf­zu­tau­chen. Ein­fach, aber effektiv — das müssen diese Basics sein, von denen Hansi Flick am RTL-Mikrofon gespro­chen hat.

Wäre Deutsch­land nicht ohnehin defensiv derart desas­trös auf­ge­treten, über Kaoru Mitoma würde nach diesem Wochen­ende sicher mehr gespro­chen. Nur gut, dass sie das vor allem in Eng­land sowieso schon seit einer Weile machen. Es lohnt sich also nach­zu­holen, was Joshua Kim­mich in der Spiel­vor­be­rei­tung augen­schein­lich ver­passt hat: Wer ist dieser Kaoru Mitoma? Und warum ist er so gut?

Kein klas­si­scher Wer­de­gang

In Japan beginnt Mitomas Kar­riere wie die vieler Fuß­baller heut­zu­tage: Er spielt in einem Nach­wuchs­leis­tungs­zen­trum, sein Verein ist der japa­ni­sche Erst­li­gist Kawa­saki Fron­tale. Im Alter von 19 Jahren aller­dings lehnt er ein Angebot für einen Pro­fi­ver­trag ab. Gegen­über Optus Sport erklärt er, warum er sich dazu ent­schied, den Kon­trakt nicht zu unter­schreiben: ​„Damals hatte ich das Gefühl, dass mein Körper noch nicht weit genug ent­wi­ckelt war, um wirk­lich gegen die Profis spielen zu können.“

Ich hatte das Gefühl, dass es für meine Kar­riere auf lange Sicht gut ist, an die Uni­ver­sität zu gehen

Kaoru Mitoma über die Entscheidung für die Universität und gegen einen Profivertrag

Anstatt für Kawa­saki in der J‑League auf­zu­laufen, geht er an die Uni und beginnt ein Sport­stu­dium. Vier Jahre lang spielt er nicht nur für die Uni­ver­si­täts­mann­schaft, son­dern ver­bes­sert unter anderem beim ehe­ma­ligen japa­ni­schen Hürden-Olym­pio­niken Satoru Tani­gawa seinen Lauf­stil. Dass die Ent­schei­dung für die Uni­ver­sität und gegen einen Pro­fi­ver­trag nie eine gegen seinen Traum vom Pro­fi­fuß­ball war, betont er auch noch einmal bei Optus Sport. ​„Ich hatte das Gefühl, dass es für meine Kar­riere auf lange Sicht gut ist, an die Uni­ver­sität zu gehen.“

Abschlussarbeit über Eins-gegen-Eins-Situationen

Dem Fuß­ball bleibt Mitoma auch auf wis­sen­schaft­li­cher Ebene ver­bunden: Für seine Abschluss­ar­beit unter­sucht er das Ver­halten von Offen­siv­spie­lern in Eins-gegen-Eins-Situa­tionen. Er schnallt seinen Mit­spie­lern Kameras um und beob­achtet, worauf sie wäh­rend des Dribb­lings ihren Blick richten. Nach seiner Ana­lyse erkennt er, dass sich die guten Dribbler von den schlech­teren darin unter­scheiden, wo sich der Gegen­spieler in ihrem Blick­feld befindet.

Die schlech­teren Dribbler bli­cken meist auf den Ball und haben ihren Gegner nur am oberen Rand des Sicht­felds. Die guten dagegen fokus­sieren sich auf den Ver­tei­diger und dessen Bewe­gungen. Sie drib­beln, ohne auf den Ball zu schauen. Diese Erkennt­nisse hätten aller­dings ​„so gut wie keinen Ein­fluss“ auf Mitomas aktu­ellen Dribb­ling­stil, wie er selbst gegen­über ESPN preisgab. Er habe das Thema vor allem des­wegen gewählt, weil es für ihn ​„leicht war, dar­über zu schreiben“.

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Millionen Euro Ablöse zahlte Brighton für Kaoru Mitoma

Nach dem Abschluss seines Stu­diums wech­selt der Flü­gel­stürmer zurück zu seinem Jugend­verein und macht dort mit drei­zehn Toren und zwölf Vor­lagen in seiner ersten Pro­fi­saison auf sich auf­merksam. So auf­merksam, dass Brighton & Hove im Sommer 2021 drei Mil­lionen Euro für ihn bezahlt. Brighton ver­leiht ihn aber erst einmal. Es geht nach Bel­gien, bei Royal Union Saint-Gil­loise soll er an den euro­päi­schen Fuß­ball her­an­ge­führt werden.

Es zieht sich durch Mitomas Lauf­bahn: Man hat das Gefühl, er möchte nicht so schnell wie mög­lich hoch hinaus, son­dern sich stetig ver­bes­sern. Bis er sich dann bereit fühlt für den nächsten Schritt.

Durchbruch unter Roberto De Zerbi

Dieser kommt einen Sommer später: Saint-Gil­loise ist auf dem zweiten Platz hinter Brügge gelandet und Mitoma konnte fünf Tore und vier Vor­lagen zum Erfolg seines Teams bei­steuern. Mit dieser Erfah­rung geht es nun end­lich nach Brighton. Dort schnappt sich Chelsea nach vier Siegen aus sechs Spielen und Tabel­len­platz vier Trainer Graham Potter weg. Roberto De Zerbi über­nimmt. Unter ihm ent­wi­ckelt sich Brighton zu einem der span­nendsten Teams Europas. Und immer wieder sticht der Japaner heraus. Nur ein Spieler konnte in der letzten Saison mehr Tor­be­tei­li­gungen für Brighton sam­meln — er stand Mitoma in Wolfs­burg gegen­über: Pascal Groß.

​Es gab eine tak­ti­sche Umstel­lung im Team, wir wurden ball­be­sitz­ori­en­tierter und ich konnte weiter vorne spielen

Kaoru Mitoma über die Veränderung bei Brighton durch Roberto De Zerbi

Unter Roberto De Zerbi kommt Mitoma richtig in Eng­land an. ​„Es gab eine tak­ti­sche Umstel­lung im Team, wir wurden ball­be­sitz­ori­en­tierter und ich konnte weiter vorne spielen.“ Diese Sys­tem­ver­än­de­rung hilft Mitoma sicht­lich: Seine erste Tor­be­tei­li­gung sam­melt er zwar erst am 14. Spieltag, doch von da an ist der Japaner kaum zu stoppen. Von Oktober bis April sam­melt er 17 seiner 18 Scor­er­punkte in der Saison.

Er trifft gegen Chelsea und Arsenal in der Pre­mier League und im FA-Cup schaltet er Liver­pool mit einem Treffer in der Nach­spiel­zeit aus — und das auf bemer­kens­werte Art und Weise: Pascal Groß schlägt einen Frei­stoß aus dem Halb­feld in den Straf­raum, von der linken Straf­raum­kante wird der Ball wieder hoch in Rich­tung langem Pfosten geschlagen. Dort lässt Mitoma den Ball einmal auf­tropfen. Er täuscht einen Volley an, nimmt damit den ihn bedrän­genden Joe Gomez aus dem Spiel und schließt mit dem Außen­rist ab. Wäh­rend­dessen berührt der Ball kein ein­ziges Mal den Boden. Dieses Tor ist zwar kein klas­si­scher Mitoma-Treffer, er zeigt aber, was ihn so stark macht: Eine her­aus­ra­gende Technik, Gedan­ken­schnel­lig­keit im Eins-gegen-Eins und vor dem geg­ne­ri­schen Tor.

Der prag­ma­ti­sche Künstler

Das Spiel gegen Liver­pool steigt Ende Januar. Zu diesem Zeit­punkt hat die Liga schon längst erkennen und erfahren müssen, was für eine Waffe Brighton da ein­ge­kauft hat. Mitoma hat die Fähig­keiten eines tor­ge­fähr­li­chen Flü­gel­stür­mers, zieht in den Straf­raum, um den Abschluss zu suchen. Trotz seiner Kör­per­größe von 1,78 Metern ist Mitoma sogar im Kopf­ball­spiel gegen die hoch­ge­wach­senen Pre­mier-League-Innen­ver­tei­diger erfolg­reich. Er erzielt zwei Tore mit dem Kopf und bereitet ein wei­teres vor. Den­noch sticht immer wieder eine Fähig­keit ganz beson­ders heraus: sein Dribb­ling.

Dieses zeichnet sich nicht durch viele Tricks aus. Er ist kein Neymar, kein Ronald­inho. Sein Dribb­ling-Stil ist vor allen Dingen eins: prag­ma­tisch. Das Mitoma-Trade­mark-Eins-gegen-Eins sieht unge­fähr so aus: Er führt den Ball relativ eng am Fuß, wiegt seinen Gegner in Sicher­heit. Dann lässt er ihn mit einer kleinen, schnellen Kör­per­täu­schung aus­steigen, legt sich den Ball drei, vier Meter vor und sprintet explo­si­ons­artig los. So trak­tierte er auch Joshua Kim­mich am Samstag wieder und wieder.

Häufig setzt Mitoma diese Finten an der linken Straf­raum­ecke ein. Gegen Lei­cester City hat er im Januar auf diese Weise sogar schon ein Rob­be­nes­ques Weit­schusstor erzielt. Auch das gehört zu Mitomas schier end­losem Fähig­keiten-Paket: Sein Dribb­ling ist nicht nur prag­ma­tisch, er setzt es auch gezielt ein. Wenn er einmal einen Ver­tei­diger umkurvt hat, folgt in der Regel ein gefähr­li­cher Pass oder ein Abschluss. ​„L’art pour l’art“, also die Kunst um der Kunst willen, gibt es bei Mitoma nicht. Und obwohl seine Abschluss­ar­beit laut ihm keinen Ein­fluss auf sein Dribb­ling­stil hatte, kann man eins erkennen: Wie ein guter Dribbler hat er hat immer den Kopf oben, beob­achtet seine Gegen­spieler.

Dass Mitoma in den letzten elf Liga­par­tien der ver­gan­genen Saison nur eine Tor­vor­lage bei­steuert, schmä­lert den Hype um den Japaner kaum. Zu Recht, denn in dieser Saison dreht Mitoma wieder auf: In der Pre­mier League steht er nach vier Spielen bei vier Tor­be­tei­li­gungen. Gerüchten zufolge war sogar Man­chester City im Sommer an einer Ver­pflich­tung inter­es­siert. Aber Kaoru Mitoma macht das, was er seine ganze Kar­riere schon gemacht hat: Er will nicht zu viel. Son­dern bleibt wo er ist, bis er sich bereit fühlt für den nächsten Schritt.

Der Text erscheint im Rahmen unserer Koope­ra­tion mit dem Magazin 11 Freunde.

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