Japan-Profi Kaoru Mitoma: Dr. Dribbling
In Wolfsburg führte er Joshua Kimmich vor, seit einem Jahr macht er das mit der ganzen Premier League. Kein Wunder, schließlich hat Kaoru Mitoma sich sogar wissenschaftlich mit Dribblings auseinandergesetzt.
Ein kurzes Zucken mit der Schulter, schon ist er vorbei. Joshua Kimmich kann nur noch hinterherschauen, wie der Ball zwischen seinen Beinen hindurchgeschoben wird. Die 21. Minute am Samstag in Wolfsburg ist ein Paradebeispiel für die Fähigkeiten des Kaoru Mitoma. Kurz hinter der Mittellinie bekommt er auf der linken japanischen Seite den Ball und zieht an. Ein paar Meter vor der Grundlinie verzögert er und sieht sich Joshua Kimmich gegenüber. Mit eben jenem kleinen Zucken der Schulter lockt Mitoma Kimmich in den Zweikampf und spitzelt ihm den Ball durch die Beine.
Spätestens ab diesem Moment weiß der Deutsche, dass sein Arbeitstag auf der rechten Abwehrseite ein schwieriger wird. Zu dessen Glück kann Mitomas Mitspieler Hidemasa Morita den Pass nicht kontrollieren, als er frei vor ter Stegen steht. Mitomas Tunnler wäre sonst wahrscheinlich schneller zum viralen Meme geworden, als Kimmich „Graugans“ sagen kann.
Die Aktion war bei weitem nicht die einzige, mit der Mitoma am Samstag überzeugte. Immer wieder suchte er von der linken Strafraumecke den Weg nach innen, spielte einen Doppelpass mit dem japanischen Stürmer Ayase Ueda, um dann zentral vor den Innenverteidigern aufzutauchen. Einfach, aber effektiv — das müssen diese Basics sein, von denen Hansi Flick am RTL-Mikrofon gesprochen hat.
Wäre Deutschland nicht ohnehin defensiv derart desaströs aufgetreten, über Kaoru Mitoma würde nach diesem Wochenende sicher mehr gesprochen. Nur gut, dass sie das vor allem in England sowieso schon seit einer Weile machen. Es lohnt sich also nachzuholen, was Joshua Kimmich in der Spielvorbereitung augenscheinlich verpasst hat: Wer ist dieser Kaoru Mitoma? Und warum ist er so gut?
Kein klassischer Werdegang
In Japan beginnt Mitomas Karriere wie die vieler Fußballer heutzutage: Er spielt in einem Nachwuchsleistungszentrum, sein Verein ist der japanische Erstligist Kawasaki Frontale. Im Alter von 19 Jahren allerdings lehnt er ein Angebot für einen Profivertrag ab. Gegenüber Optus Sport erklärt er, warum er sich dazu entschied, den Kontrakt nicht zu unterschreiben: „Damals hatte ich das Gefühl, dass mein Körper noch nicht weit genug entwickelt war, um wirklich gegen die Profis spielen zu können.“
Ich hatte das Gefühl, dass es für meine Karriere auf lange Sicht gut ist, an die Universität zu gehen
Kaoru Mitoma über die Entscheidung für die Universität und gegen einen Profivertrag
Anstatt für Kawasaki in der J‑League aufzulaufen, geht er an die Uni und beginnt ein Sportstudium. Vier Jahre lang spielt er nicht nur für die Universitätsmannschaft, sondern verbessert unter anderem beim ehemaligen japanischen Hürden-Olympioniken Satoru Tanigawa seinen Laufstil. Dass die Entscheidung für die Universität und gegen einen Profivertrag nie eine gegen seinen Traum vom Profifußball war, betont er auch noch einmal bei Optus Sport. „Ich hatte das Gefühl, dass es für meine Karriere auf lange Sicht gut ist, an die Universität zu gehen.“
Abschlussarbeit über Eins-gegen-Eins-Situationen
Dem Fußball bleibt Mitoma auch auf wissenschaftlicher Ebene verbunden: Für seine Abschlussarbeit untersucht er das Verhalten von Offensivspielern in Eins-gegen-Eins-Situationen. Er schnallt seinen Mitspielern Kameras um und beobachtet, worauf sie während des Dribblings ihren Blick richten. Nach seiner Analyse erkennt er, dass sich die guten Dribbler von den schlechteren darin unterscheiden, wo sich der Gegenspieler in ihrem Blickfeld befindet.
Die schlechteren Dribbler blicken meist auf den Ball und haben ihren Gegner nur am oberen Rand des Sichtfelds. Die guten dagegen fokussieren sich auf den Verteidiger und dessen Bewegungen. Sie dribbeln, ohne auf den Ball zu schauen. Diese Erkenntnisse hätten allerdings „so gut wie keinen Einfluss“ auf Mitomas aktuellen Dribblingstil, wie er selbst gegenüber ESPN preisgab. Er habe das Thema vor allem deswegen gewählt, weil es für ihn „leicht war, darüber zu schreiben“.
Nach dem Abschluss seines Studiums wechselt der Flügelstürmer zurück zu seinem Jugendverein und macht dort mit dreizehn Toren und zwölf Vorlagen in seiner ersten Profisaison auf sich aufmerksam. So aufmerksam, dass Brighton & Hove im Sommer 2021 drei Millionen Euro für ihn bezahlt. Brighton verleiht ihn aber erst einmal. Es geht nach Belgien, bei Royal Union Saint-Gilloise soll er an den europäischen Fußball herangeführt werden.
Es zieht sich durch Mitomas Laufbahn: Man hat das Gefühl, er möchte nicht so schnell wie möglich hoch hinaus, sondern sich stetig verbessern. Bis er sich dann bereit fühlt für den nächsten Schritt.
Durchbruch unter Roberto De Zerbi
Dieser kommt einen Sommer später: Saint-Gilloise ist auf dem zweiten Platz hinter Brügge gelandet und Mitoma konnte fünf Tore und vier Vorlagen zum Erfolg seines Teams beisteuern. Mit dieser Erfahrung geht es nun endlich nach Brighton. Dort schnappt sich Chelsea nach vier Siegen aus sechs Spielen und Tabellenplatz vier Trainer Graham Potter weg. Roberto De Zerbi übernimmt. Unter ihm entwickelt sich Brighton zu einem der spannendsten Teams Europas. Und immer wieder sticht der Japaner heraus. Nur ein Spieler konnte in der letzten Saison mehr Torbeteiligungen für Brighton sammeln — er stand Mitoma in Wolfsburg gegenüber: Pascal Groß.
Es gab eine taktische Umstellung im Team, wir wurden ballbesitzorientierter und ich konnte weiter vorne spielen
Kaoru Mitoma über die Veränderung bei Brighton durch Roberto De Zerbi
Unter Roberto De Zerbi kommt Mitoma richtig in England an. „Es gab eine taktische Umstellung im Team, wir wurden ballbesitzorientierter und ich konnte weiter vorne spielen.“ Diese Systemveränderung hilft Mitoma sichtlich: Seine erste Torbeteiligung sammelt er zwar erst am 14. Spieltag, doch von da an ist der Japaner kaum zu stoppen. Von Oktober bis April sammelt er 17 seiner 18 Scorerpunkte in der Saison.
Er trifft gegen Chelsea und Arsenal in der Premier League und im FA-Cup schaltet er Liverpool mit einem Treffer in der Nachspielzeit aus — und das auf bemerkenswerte Art und Weise: Pascal Groß schlägt einen Freistoß aus dem Halbfeld in den Strafraum, von der linken Strafraumkante wird der Ball wieder hoch in Richtung langem Pfosten geschlagen. Dort lässt Mitoma den Ball einmal auftropfen. Er täuscht einen Volley an, nimmt damit den ihn bedrängenden Joe Gomez aus dem Spiel und schließt mit dem Außenrist ab. Währenddessen berührt der Ball kein einziges Mal den Boden. Dieses Tor ist zwar kein klassischer Mitoma-Treffer, er zeigt aber, was ihn so stark macht: Eine herausragende Technik, Gedankenschnelligkeit im Eins-gegen-Eins und vor dem gegnerischen Tor.
Der pragmatische Künstler
Das Spiel gegen Liverpool steigt Ende Januar. Zu diesem Zeitpunkt hat die Liga schon längst erkennen und erfahren müssen, was für eine Waffe Brighton da eingekauft hat. Mitoma hat die Fähigkeiten eines torgefährlichen Flügelstürmers, zieht in den Strafraum, um den Abschluss zu suchen. Trotz seiner Körpergröße von 1,78 Metern ist Mitoma sogar im Kopfballspiel gegen die hochgewachsenen Premier-League-Innenverteidiger erfolgreich. Er erzielt zwei Tore mit dem Kopf und bereitet ein weiteres vor. Dennoch sticht immer wieder eine Fähigkeit ganz besonders heraus: sein Dribbling.
Dieses zeichnet sich nicht durch viele Tricks aus. Er ist kein Neymar, kein Ronaldinho. Sein Dribbling-Stil ist vor allen Dingen eins: pragmatisch. Das Mitoma-Trademark-Eins-gegen-Eins sieht ungefähr so aus: Er führt den Ball relativ eng am Fuß, wiegt seinen Gegner in Sicherheit. Dann lässt er ihn mit einer kleinen, schnellen Körpertäuschung aussteigen, legt sich den Ball drei, vier Meter vor und sprintet explosionsartig los. So traktierte er auch Joshua Kimmich am Samstag wieder und wieder.
Häufig setzt Mitoma diese Finten an der linken Strafraumecke ein. Gegen Leicester City hat er im Januar auf diese Weise sogar schon ein Robbenesques Weitschusstor erzielt. Auch das gehört zu Mitomas schier endlosem Fähigkeiten-Paket: Sein Dribbling ist nicht nur pragmatisch, er setzt es auch gezielt ein. Wenn er einmal einen Verteidiger umkurvt hat, folgt in der Regel ein gefährlicher Pass oder ein Abschluss. „L’art pour l’art“, also die Kunst um der Kunst willen, gibt es bei Mitoma nicht. Und obwohl seine Abschlussarbeit laut ihm keinen Einfluss auf sein Dribblingstil hatte, kann man eins erkennen: Wie ein guter Dribbler hat er hat immer den Kopf oben, beobachtet seine Gegenspieler.
Dass Mitoma in den letzten elf Ligapartien der vergangenen Saison nur eine Torvorlage beisteuert, schmälert den Hype um den Japaner kaum. Zu Recht, denn in dieser Saison dreht Mitoma wieder auf: In der Premier League steht er nach vier Spielen bei vier Torbeteiligungen. Gerüchten zufolge war sogar Manchester City im Sommer an einer Verpflichtung interessiert. Aber Kaoru Mitoma macht das, was er seine ganze Karriere schon gemacht hat: Er will nicht zu viel. Sondern bleibt wo er ist, bis er sich bereit fühlt für den nächsten Schritt.
Der Text erscheint im Rahmen unserer Kooperation mit dem Magazin 11 Freunde.
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