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Sport: ky zum Sonntag: Alles tanzt nach meiner Pfeife

"Richte nicht, auf dass du nicht gerichtet wirst." So steht es in der Bibel, und dennoch gibt es jede Menge Richter und Schiedsrichter.

"Richte nicht, auf dass du nicht gerichtet wirst." So steht es in der Bibel, und dennoch gibt es jede Menge Richter und Schiedsrichter. In einem funktionierenden sozialen System seien sie bei der geregelten Konfliktbewältigung unentbehrlich, heißt es in den soziologischen Lehrbüchern. Es müsse immer etwas geben, das noch über den einflussreichsten und reichsten seiner Mitglieder steht: die Norm, die Regel, das Gesetz. Und zu deren Einhaltung hat die Gesellschaft eben eine ganz besondere Gruppe von Menschen bestellt: die Richter und Schiedsrichter. Sportvereine sind ja den Stämmen unserer Vorfahren nicht unähnlich, angefangen vom Gruppengefühl bis hin zur unterschiedlichen Kleidung, doch wenn sich heute der Stamm Bayer Leverkusen und der Stamm Bayern München um Millionen streiten, dann tragen sie ihren Konflikt nicht mit Pike, Degen oder Flinte aus, sondern in der Form eines Bundesligaspiels und nach festen Regeln, über deren Einhaltung eine unumstößliche Amtsautorität zu wachen hat.

Der Schiedsrichter ist im Regelfall männlich und entstammt einer Berufsgruppe, die als solide und bürgerlich gilt. In seinem angestammten Beruf hat er selten sonderlich Karriere gemacht, und ohne sein Schiedsrichterdasein wäre er im Allgemeinen so unauffällig wie ein Spatz in einer Spatzenschar.

Nun gut, manchmal muss er auch unter Polizeischutz aus dem Stadion geleitet werden, und auf dem Spielfeld sehen alle, dass er lange Beine und kaum Waden hat. Mit leichenblasser Haut dazu. Auch wird er des Öfteren mit dem Gegenstand gleichgesetzt, aus dem er akustische Signale zur Steuerung des Spieles erzeugt: "Du Pfeife, du!" Früher hallte dem Pfeifenmann auch immer "Du schwarze Sau!" entgegen, doch dem hat der DFB durch die nun bunt gefärbte Schiedsrichterkleidung einen Riegel vorgeschoben. Fast so elegant wie beim Billard sehen die Herren heutzutage aus. Fehlen ihnen nur noch die weißen Handschuhe. Manchmal bekommen sie einen Ball an den Hinterkopf, fallen um und lassen ganz Deutschland vor Freude wiehern. Viele Schiedsrichter werden von den Zuschauern für blind gehalten, und man verlangt von ihnen lautstark, das Blindenabzeichen anzulegen.

Schiedsrichter ziehen Aggressionen auf sich und leben gefährlich. Das ist der Preis dafür, dass sie partiell und temporär eine so machtvolle Rolle spielen dürfen. Wer sich klein und mickrig fühlt, also unter Minderwertigkeitsgefühlen leidet, der sollte schnell zum Therapeuten gehen und den bitten, ihm nahezulegen, sich einmal als Schiedsrichter zu versuchen. Wem Omnipotenz, Popularität und Spesen nicht reichen, kann sich auch bestechen lassen. Es mag neben dem Zuwachs an Macht und Bedeutsamkeit viele Gründe geben, Schiedsrichter zu werden. Da spielen Liebe und Affinität zu einer ganz bestimmten Sportart ebenso eine Rolle wie das Problem, mit dem Gefühl der Leere fertig zu werden, das manche Menschen an Wochenenden überfällt. Auch hat man einen triftigen Grund, sich seinem geliebten Partner für eine Weile zu entziehen. "Der ganze Spielbetrieb bricht doch zusammen, wenn ich nicht pfeife." Altruismus ist immer ein gutes Handkantenargument. Zudem ist anzunehmen, dass Menschen mit einem rigiden Über-Ich und hohen Ladungen auf der Dogmatismusskala gern Schiedsrichter werden, da ihnen Einhaltung der Normen der höchste aller Werte ist. Normenbrecher können sie auf der Stelle sanktionieren: Pfiff, Gelbe, Gelb-Rote oder Rote Karte - und die heilige Ordnung ist wieder hergestellt.

Zum richtigen Herrscher gehören auch Adjutanten, und so haben die Fußball-Schiedsrichter auch Assistenten. Sechs Augen sehen halt mehr als zwei, aber leider nicht immer dasselbe, was eine Menge von Konflikten zwischen den Konfliktschlichtern einer- und mit dem Publikum andererseits heraufbeschwört, insbesondere wenn es ums Abseits geht. Dies ist ja nun ein Thema, das uns seit biblischen Zeiten beschäftigt, siehe die Frage: "Wer war der erste Fußballspieler?" Antwort: "Jesus - er stand mit seinen Jüngern abseits vor dem Tore."

Welches ist der ideale Schiedsrichter? Zweifellos der, bei dem zur Amtsautorität noch etwas anderes kommen muss: Fachliche Kompetenz und ein gewisses Maß an Charisma. Wer sich zu schnell in seiner Ehre gekränkt fühlt, über den wird gelacht, so wie über den "Schwarzkittel", der zu seligen Oberligazeiten den legendären Willi "Ente" Lippens (Rot-Weiß Essen) nach einem kleinen Dialog vom Platz gestellt hat. Zu Lippens: "Ich verwarne Ihnen." Antwort: "Ich danke Sie." Gott, Schiedsrichter haben es schwer. Man pfeift sie aus, beschimpft sie, droht ihnen Prügel an, unterstellt ihnen unlautere Absichten und psychische Defekte. Und sie steigen ab, wenn sie keine Leistung bringen.

Wer nicht immer Schiedsrichter sagen will, hat wenig Möglichkeiten und belässt es meistens bei "Referee" oder "Unparteiischer", früher sagte man auch "Schiri", doch das ist in den Zeiten übertriebener political correctness aus der Mode gekommen, läuft man doch Gefahr, für einen Anhänger des großrussisch-nationalistischen und antisemitischen Politikers Wladimir Wolfowitsch Schirinowskji gehalten zu werden. Liebhaber des italienischen Fußballs sprechen von "arbitro", was enthüllend ist, denn arbitrio heißt Willkür, Eigenmächtigkeit und ad arbitrio nach Belieben. Womit wir bei der Tatsachenentscheidung sind, ohne die es endlose Proteste und Prozesse gäbe. Sind wir also den Schiedsrichtern dankbar dafür, dass sie das tun, was in der Theorie Niklas Luhmanns für ein soziales System von zentraler Wichtigkeit ist: die Reduktion von Komplexität und die Herstellung bindender Entscheidungen.

Horst Bosetzky

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