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Sport: Licht aus

Brasilien verstummt und wartet auf die nächste WM

Am Ende brennt noch eine kleine gelbgrüne Kerze auf dem Tresen. Flackernd trotzt sie den Luftschüben der Ventilatoren, dann ist ihr Wachs aufgebraucht und ihr Docht klebt qualmend auf der Untertasse. Ein anderes Feuer ist da schon längst in Rio de Janeiros Traditionslokal Bar do Gomez erloschen: das der Leidenschaft für die Selecao, die brasilianische Nationalmannschaft, auf der so riesige Hoffnungen ruhten. Die fast 90-jährige Bar do Gomez liegt in Rios alternativem Stadtteil Santa Teresa. Bei Spielen Brasiliens drängeln sich Künstler, Studenten und Arbeiter bis auf die Straße vor der rustikalen Pinte, über der ein riesiges gelb-grünes Tuch flattert. Dort feierten sie auch die bisherigen Siege mit Churrasco, Trommeln, Bier und Böllern.

Doch heute ist alle anders. Soeben hat der Schiedsrichter im fernen Frankfurt das WM-Viertelfinalspiel Brasiliens gegen Frankreich abgepfiffen und in Santa Teresa ein kollektives Aufstöhnen ausgelöst. Mit 1:0 haben die Franzosen die Selecao nach Hause geschickt und den Traum von 180 Millionen Brasilianern und rund 150 Menschen im Gomez beerdigt. Nichts wird es mit dem Hexa, dem sechsten Weltmeistertitel, von dessen Gewinn hier vor dem Spiel alle felsenfest überzeugt waren.

Nun flucht man über die eigene „Auswahl von Warmduschern“, die es zum ersten Mal seit zwölf Jahren nicht ins Finale schafft, oder zuckt gleichmütig mit den Schultern und bestellt fünf Flaschen Bier. Ein sechzehnjähriges Mädchen aber steht zitternd zwischen all den lauten Fans in ihren farbenfrohen Hemden und drückt das Gesicht an den Busen seiner Freundin. Als man ein Foto von der Szene machen möchte, wird man von der Trostspenderin angeherrscht: „Das ist ernst, Freundchen. Sei froh, dass du kein schwuchteliger Franzose bist. Sonst setzt es was.“

Merke: Brasilianer verstehen beim Fußball nur so lange Spaß, wie das eigene Team gewinnt. Dabei hatte doch alles so hoffnungsfroh begonnen. Bei Spielbeginn hatten die Mädchen die Kerze auf dem Tresen angezündet und wie ein krankes Vögelchen gehütet. Und tatsächlich schien die Bittkerze das brasilianische Team vor den anrennenden Franzosen zu beschützen. Als die Blauen vor der Halbzeit einen Freistoß aus sechzehn Metern in die Mauer jagen, jubelt die Menge wie bei einem Tor. „Wenn im Angriff nichts läuft, dann freuen wir uns eben über unsere tolle Abwehr“, ruft der Koch vom Gomez, der seinen Kopf durch die kleine Küchenluke steckt, weil er mal ein bisschen Luft hat.

„Nein, dies ist kein normales Spiel“, sagt Gilberto Mendoza. „Hier geht es um eine offene Rechnung mit Frankreich.“ Der 43-Jährige ist Ingenieur für Umwelttechnik, er trägt ein grünes T-Shirt und einen Stoppelbart. Heute ist Samstag, da muss man sich nicht rasieren. Mendozas Stimme ist heiser. Mit den anderen im Gomez hat er vor dem Spiel die Nationalhymne Brasiliens geschmettert. Zweimal sogar. Denn als die Marseillaise, die Hymne Frankreichs, ertönte, da hat ein Kellner einfach den Ton ausgeschaltet und die Brasilianer haben ihre Hymne noch einmal gesungen. Und während die Kamera die Gesichter der französischen Mannschaft abfuhr, schnellten die Mittelfinger in die Höhe. Vor allem bei den Spielern, die in dem Team standen, das Brasilien im WM-Finale 1998 bezwungen hatte. Wie viele Brasilianer glaubt auch Gilberto Mendoza, dass das Finale damals für viel Geld an Frankreich verkauft wurde. „Drei zu eins für uns“, tippt er den Ausgang der Revanche.

Dann fällt das Tor für Frankreich. Ein Aufschrei, auf den eine unheimliche Stille folgt. Die vorher noch so fröhlichen Gesichter werden bleich. Aus Entsetzen wird Ungeduld. Das Team zieht das Tempo nicht an. Einzelne brüllen. Wann wechselt der Trainer endlich den „Pensionär“ Cafu aus, wann holt er den „Marketing-Gag“ Ronaldo vom Feld, wann zieht er den „Blindgänger“ Roberto Carlos aus dem Verkehr. Wann endlich bringt er Robinho? Einer ruft: „Leute, aufwachen!“ Keiner lacht. Minute um Minute verrinnt, und der Trainer reagiert nicht. Bei jeder Einblendung wird er als „Schlappschwanz“ beschimpft. Wegwerfende Handbewegungen. „Wir Brasilianer können erbarmungslos mit unseren Helden sein“, erklärt Mendoza. „Aber sie verdienen ja auch Millionen, während unsereins für wenig Geld hart schuften geht. Wir haben das Recht zu verlangen, dass sie ebenso hart für uns arbeiten.“

Doch die Niederlage rückt näher, und Brasilien bäumt sich nicht auf. Nur Ronaldinho schlabbert noch einen Freistoß hinters Tor. Haare raufen. Abpfiff. Es ist, als stoppte ein Auto in einer Sekunde von 180 auf null. Fassungsloses Schweigen. Man muss an die Worte des brasilianischen Anthropologen Roberto Da Matta denken: „Wenn Brasilien nicht Weltmeister wird, stehen wir nackt da. Man nimmt uns alles.“ Die Nationalmannschaft, sagte Da Matta, sei für viele Brasilianer das Beste, was ihr Land je hervorgebracht habe. „War unser Team überhaupt auf dem Platz?“, fragt Gilberto Mendoza ungläubig.

Das Licht geht an, die Menschen wachen wie aus einer Trance auf. Man umarmt sich, strömt auf die Straße, wo schon wieder die ersten Busse fahren. Gilberto Mendoza zündet die Böller, die für die Siegesfeier bestimmt waren. „Ich hake das jetzt ab“, sagt er und schnippt mit den Fingern. „Wir können uns jetzt wieder den wirklichen Problemen dieses Landes widmen.“ Da kommen die beiden Kerzenmädchen aus dem Gomez und entschuldigen sich dafür, dass sie einen angeschrien haben. Sie lachen verschämt. „Unsere Kerze hat den Spielern auch nicht den Weg zum Tor erleuchtet.“ Auf dem Nachhauseweg sieht man den Zuckerhut. Er wird grün und gelb angestrahlt. Um 2.30 Uhr gehen die Scheinwerfer aus. In vier Jahren werden sie wieder angestellt.

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