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© ddp

Nationalmannschaft: Das Risiko hält sich

Mit seinem offensiven Torhüterspiel stürmt Jens Lehmann zuweilen übers Ziel hinaus – und bringt die Nationalelf in Gefahr.

Das geneigte Publikum fragt sich gelegentlich, was Fußballprofis eigentlich in ihrer reich bemessenen Freizeit treiben. Besonders anspruchsvolle Beschäftigungen werden ihnen selten unterstellt, aber das ist vielleicht ein bisschen ungerecht. Jens Lehmann zum Beispiel besitzt ein ausgeprägtes Faible für Statistiken. Ende des vergangenen Jahres zählte er detailliert alle Spiele auf, die er, Lehmann, bis zum Ende der Saison bestritten haben würde. Mit seiner komplett ausgearbeiteten Einsatzstatistik versuchte er dem allgemeinen Eindruck entgegenzuwirken, er könne bis zum Beginn der Europameisterschaft nicht genügend Wettkampfpraxis zusammenbekommen. Am Mittwoch, nach dem 3:0-Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Österreich, wartete der Torhüter mit einem weiteren erstaunlichen Ergebnis seiner Statistikleidenschaft auf. Lehmann berichtete, dass von allen Nationalspielern nur Michael Ballack im Kalenderjahr 2008 mehr Spielpraxis gesammelt habe als er, Jens Lehmann, der Ersatztorhüter des FC Arsenal.

Abgesehen davon, dass die Statistik wenig beweist, weil für die in Deutschland beschäftigten Nationalspieler das Spieljahr erst vor einer Woche begonnen hat – die kleine Begebenheit am Rande des Spiels illustriert vor allem zweierlei: Zum einen bereitet sich Lehmann in Theorie und Praxis höchst penibel auf seine Einsätze in der Nationalmannschaft vor; zum anderen scheint er mit nun 38 Jahren zunehmend von der Furcht getrieben, sich für seine Stellung rechtfertigen zu müssen. „Ihm ist selbst klar, dass er vermehrt unter Beobachtung steht“, sagte Andreas Köpke, der Torwarttrainer der deutschen Nationalmannschaft.

Seitdem Lehmann im Sommer bei Arsenal seinen Stammplatz verloren hat und nur noch sporadisch zum Einsatz kommt, spielt er im Nationaltrikot gegen den latenten Vorwurf an, er verdiene den Platz im Tor der Nationalmannschaft gar nicht mehr und könnte ohne genügend Spielpraxis zu einem Risiko für das deutsche Team werden. „Wenn Deutschland sonst nichts zu diskutieren hat, ist es schön, weil wir dann keine anderen Probleme haben“, sagte Lehmann. „Und ich kann damit leben.“

Bisher hat ihn eine solche Situation sogar noch zusätzlich herausgefordert und angetrieben. „Eigentlich macht er seine besten Spiele, wenn er unter Druck ist“, sagte Köpke. Eigentlich. Gegen Österreich gab es eine kurze, aber heftige Phase, die eher die Zweifel an Lehmann nährte. Nach einem langen Ball auf Martin Harnik sprintete er 30 Meter aus seinem Tor, obwohl Österreichs Stürmer noch vom deutschen Innenverteidiger Manuel Friedrich begleitet wurde. Lehmann kam zu spät und Harnik zur ersten von vielen guten Chancen für den Außenseiter aus Österreich. „Ich habe einen Fehler gemacht“, gestand der Torhüter hinterher. „Aber es ist nichts passiert.“ Genauso wenig wie bei der anschließenden Ecke, als Lehmann unter dem Ball hersprang und Pogatetz frei zum Kopfball kam. „Wir wissen, dass jetzt eine Diskussion kommt, aber wir haben schon Vertrauen in Jens“, sagte Bundestrainer Löw. „Er hat bei uns gezeigt, dass er auch ohne Spielpraxis in der Lage ist, konzentriert zu agieren.“

Es gibt – ohne Frage – auch immer wieder Szenen, in denen der Torhüter dieses Vertrauen rechtfertigt. „Er hat ein paar gute Paraden gehabt“, sagte Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft. Gegen Christian Fuchs bewahrte Lehmann seine Mannschaft nach einer halben Stunde mit einer Fußabwehr vor dem 0:1. „Ich habe mich reingehauen, wenn es eng wurde“, sagte er. Außerdem könne er sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal in der Nationalmannschaft einen Fehler gemacht habe. Trotzdem ist inzwischen eine gefährliche Gemengelage entstanden. Lehmanns ausgesprochen offensive Interpretation des Torwartspiels trifft mit seinem Bestreben zusammen, es besonders gut zu machen. „Dass man nicht jeden Ball bekommen kann, wenn man so risikoreich spielt wie ich, das ist leider so“, sagte er. Doch von der Entschlossenheit zur Übermotivation ist es bei Lehmann nur ein kurzer Satz. Im Herbst, beim EM-Qualifiktionsspiel in Irland, gelang ihm ein fast perfekter Auftritt. Aber auch in diesem Spiel eilte Lehmann einmal ohne Not so weit aus seinem Tor, dass er nur noch auf Kosten einer Gelben Karte ein Gegentor der Iren verhindern konnte.

„Eigentlich erwarten wir von ihm, dass er diese Bälle erläuft und dadurch gefährliche Situationen vermeidet“, sagte Andreas Köpke. Aber immer mehr scheint Lehmann auch einem Bild entsprechen zu wollen, das er selbst von sich als Modernisierer des Torwartspiels gemalt hat. In dieser Beziehung ist Jens Lehmann seinem Vorgänger und heiligen Konkurrenten Oliver Kahn viel ähnlicher, als es ihm vermutlich lieb ist. Auch Kahn ist immer mehr zu einem Gefangenen seines eigenen Images geworden.

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