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Erste Chance vergeben. Dorothea Brandt hat nach ihrer Niederlage bei der deutschen Meisterschaft die Möglichkeit, sich bei der EM für London zu qualifizieren.

© dpa

Olympia-Serie "Letzte Chance" (3): Nicht atmen, gnadenlos durchziehen

Schwimmerin Dorothea Brandt hatte sich für die Olympischen Spiele 2008 schon qualifiziert – allerdings zum falschen Zeitpunkt. Mitfahren durfte sie dann doch nicht nach Peking. Und auch für London wird es eng.

Nur alle vier Jahren finden Olympische Spiele statt, und beim Versuch, sich dafür zu qualifizieren oder als Favorit eine Medaille zu gewinnen, kann einiges dazwischenkommen. Wir stellen in unserer Serie Athleten vor, für die London die letzte olympische Chance ist – entweder, um überhaupt einmal bei den Spielen dabei zu sein oder um endlich den erhofften Erfolg zu feiern. Heute: Schwimmerin Dorothea Brandt.

Es war ein Reflex, was kann man gegen Reflexe schon machen? Nichts kann man machen. Die Lunge brannte, die Muskeln schmerzten, der Wille hatte keine Macht mehr über den Drang des Körpers. Also drehte sie den Kopf zur Seite, öffnete den Mund, sog Luft ein, sie füllte ihre brennend Lunge. Dorothea Brandt hatte geatmet.

Nun war alles aus.

Das Ticket für London, die Olympia-Norm, der große Traum, alles erledigt mit einem Atemzug. Man atmet nicht über 50 Meter Freistil, man hält den Kopf unter Wasser, man keult die Bahn durch, koste es, was es wolle. Wer atmet, verliert den Rhythmus, verliert Zeit, verliert ein Rennen. Dorothea Brandt war im Vorlauf die Schnellste über 50 Meter Freistil bei den deutschen Schwimmmeisterschaften. Sie hatte nach 25,31 Sekunden angeschlagen, ohne Atemzug. Die Olympianorm beträgt 25,11 Sekunden. „Die Zeit hat sie physisch locker drauf“, sagt ihr Trainer Steffen Zesner.

Aber im Finale drehte sie den Kopf, 20 Meter vor dem Ziel, sofort zog Daniela Schreiber an ihr vorbei. Schreiber Zweite, 25,30 Sekunden, Brandt Dritte 25,45 Sekunden. Danach flossen Tränen.

Sie hat jetzt eine zweite Chance, der Verband gibt Leuten wie Brandt die Möglichkeit, sich noch bei der EM in Debrecen/Ungarn, die morgen beginnt, für London zu qualifizieren. Dorothea Brandt von der SG Neukölln, 28 Jahre alt, hat noch nicht alles verloren.

Es ist alles eine Frage der Psyche. Zesner sah sie vor dem Finale zum Startblock gehen, da wusste er: Es würde ein Problem geben. „Sie wurde mit jedem Schritt nervöser.“ Die mehrfache deutsche Kurzbahn-Meisterin scheiterte an ihren Nerven, für Zesner gibt’s keinen Zweifel. Die 28-Jährige selber sagt, „es lag nicht an der Psyche, die Fehler wurden im Trainingsaufbau gemacht“.

Vielleicht, aber die Psyche hat entscheidende Bedeutung für den Kern ihres Rennens: Sie darf nicht atmen. Nichts hat sie in den vergangenen Monaten intensiver trainiert als diesen Punkt. Weil sie geatmet hatte, ist sie bei der WM 2011 früh gescheitert. Den Kopf unten zu lassen, das ist brutal. „Da schreit jede Zelle, jede Faser des Körpers, jeder Muskel: atme, atme.“ So beschreibt Dorothea Brandt dieses Gefühl, wenn das Ziel noch ein paar Meter entfernt ist. Nur wer psychisch stabil ist, hält den Kopf unten.

Bei der EM wird wieder ihr Körper aufheulen. Aber in Debrecen, sagt sie, „da ist die Atmosphäre ruhiger als in Berlin. Außerdem sind da viele international starke Schwimmerinnen, die mich mitziehen.“ Mitziehen nach London, zu den Olympischen Spielen. 2012 möchte sie dabei sein.

2008 war sie nicht dabei. Obwohl sie die Olympianorm klar unterboten hatte. Damals hatte sie geatmet, es reichte trotzdem. Nur hatte sie die Norm im Vorlauf erreicht, nicht im Finale.

Sie hatte einen Deal mit ihrem damaligen Trainer. Der Deal, so schildert ihn Dorothea Brandt, sah so aus: Sie verzichtet auf die 100 Meter Freistil, sie konzentriert sich ganz auf die 50 Meter, damit das Projekt Olympia in Peking nicht gefährdet wird. Aber dann habe der Coach sie bei der Qualifikation doch zu den 100 Metern überredet, wegen der Staffel. Die Chance für einen Platz in der Freistilstaffel in Peking war groß. Aber Dorothea Brandt verpatzte ihr Rennen völlig, sie schlug als Siebte an. Vom Staffelplatz war damit nicht mehr die Rede. Kurz darauf war auch von Peking keine Rede mehr. Dorothea Brandt wurde Zweite im Finale über 50 Meter Freistil. Das war gut, aber das reichte nicht. Sie hätte auch die Norm erfüllen müssen.

Aber bitte, der Vorlauf, da hatte sie doch die Norm erfüllt, das müsste doch trotzdem reichen. An diesen Punkt klammerte sie sich. Doch Cheftrainer Örjan Madsen blieb hart, Dorothea Brandt musste zu Hause bleiben. „Eine Wunde, die heilen muss“, sagt sie. Regeln, Richtlinien, diese rationalen Punkte, die Erklärungen liefern, die greifen nicht bei Dorothea Brandt bei diesem Thema. Paragrafen kann man nicht fühlen. Aber Schmerzen, die kann man fühlen. „Ich war sauer und enttäuscht.“ Deshalb hat für sie London überragende emotionale Bedeutung. Der Start in London würde auch eine Wunde endgültig schließen.

2008 waren die Schmerzen überragend. Und ihre Wut richtete sich gegen Madsen, gegen dieses Gefühl, betrogen worden zu sein. Die Schwimm-Wettbewerbe in Peking verfolgte sie trotzdem, das hatte auch viel mit Trotz zu tun, sie zog aus den Rennen Motivation fürs weitere Training. Nur beim Vorlauf über 50 Meter Freistil, da spielte Trotz keine Rolle, da beherrschte der Schmerz ihre Gefühle. „Das hätte mein Rennen sein können“, schoss ihr durch den Kopf. Aber die 50 Meter Freistil wurden das Rennen von Britta Steffen, ihrer Vereinskollegin, ihrer Trainingsrivalin. Die beiden haben ein eher distanziertes Verhältnis zueinander. Doch Steffens grandioser Auftritt, gekrönt mit Gold, überdeckte in dieser Sekunde alle Unterschiede. Dorothea Brandt feierte mit der Kollegin. Und so nebenbei, sagt sie, „hatte Brittas Erfolg auch etwas Betäubendes“. Sie spürte kurze Zeit die Schmerzen nicht mehr.

Dieses Gold von Steffen, das zweite nach dem Sieg über 100 Meter Freistil, das pushte auch jene Frau mit den langen schwarzen Haaren und diesem Modelgesicht, dem sie auch einen Vertrag mit IMG, dem größten Sportvermarkter der Welt, verdankte. Dorothea Brandt spürte „einen Schub“, sie hatte den Willen, „für 2012 alles besser zu machen“. Das trieb sie die ganzen Jahre an.

Jetzt, im olympischen Jahr, sagt die 28-Jährige, während sie nach ihrem verpatzten 50-Meter-Rennen in einem kleinen Raum der Berliner Schwimmhalle sitzt, die Spuren der Tränen noch erkennbar, „da kommt alles nochmal besonders hoch“. Die EM ist ihre zweite, ihre letzte Chance. Sie wird alles daran setzen, dass sie das London-Ticket holt. Wenn die Psyche stimmt und die Erinnerungen sie nicht einholen. „Hundertprozentig verarbeitet“, sagt die 28-Jährige, „habe ich die Enttäuschung von damals noch nicht.“

Bisher erschienen: Marcel Hacker

(9. Mai), Markus Steuerwald (13. Mai).

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