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Olympiaboykott: Einer floh in die Berge, der andere ins Zelt

Olympia im Spannungsfeld zwischen Sport und Politik: Der Mainzer Zehnkämpfer Guido Kratschmer war 1980 sicher, dass er Gold gewinnen würde und der DDR-Kanute Olaf Heukrodt durfte 1984 nicht in L.A. starten – er holte sein Gold vier Jahre später.

Guido Kratschmer

Die Blockhütte stand irgendwo in den Bergen von Österreich. Sie gehörte einem Freund von Guido Kratschmer, er durfte dort ein paar Tage übernachten. Von der Hütte aus unternahm er seine Bergtouren. Und je länger er wanderte, umso stärker reifte sein Plan. Er würde den Wettkampf seines Lebens machen. Er würde einen neuen Weltrekord im Zehnkampf aufstellen. Es war eine reine Kopfentscheidung, so als hätte er beschlossen, einen neuen Fernseher zu kaufen.

Weltrekord, das war seine Antwort auf die Leute, die ihm den eigentlichen Wettkampf seines Lebens verwehrt hatten. „Ich war sicher, dass ich Olympiasieger würde. Ich fühlte mich Daley Thompson überlegen“, sagt Kratschmer. Daley Thompson, der Brite, war der große Konkurrent, er hatte am 18. Mai 1980 in Götzis einen neuen Weltrekord aufgestellt. Kratschmer wurde nur Zweiter. Aber den Olympiazweiten von 1976 störte das nicht. Er war in Topform. Körperlich.

Seelisch war er tagelang ein gebrochener Mann. Kurz vor Thompsons Weltrekord hatte das Nationale Olympische Komitee den Olympia-Boykott beschlossen. „Das war ganz schlimm“, sagt Kratschmer. Er hatte bis zuletzt geglaubt, dass es keinen Boykott geben würde. Weil der doch nichts bringt, weil er für diesen Olympiasieg trainiert hatte, weil er einfach nicht glauben wollte, dass die Funktionäre diesen fatalen Beschluss fassen würden. Sie fassten ihn doch, und Kratschmer flüchtete in die Berge. „Ich brauchte Abstand“, sagt er.

In Bernhausen bei Stuttgart gab er dann seine Antwort. Es sollte eigentlich die Olympiaqualifikation der deutschen Zehnkämpfer werden, es wurde die großen Show des Guido Kratschmer. Der Mann vom USC Mainz, ein ruhiger, fast introvertierter Mann, steigerte sich auf 8649 Punkte, 27 mehr als Thompson erreicht hatte. Danach wollte er sich nur noch verkriechen, er war zu erschöpft, um Freude zu zeigen, er war zu deprimiert, um Genugtuung zu empfinden. Er hatte seine Antwort gegeben, aber es war kein Triumph für ihn. Den Auftritt im „Aktuellen Sportstudio“ absolvierte er als Pflichttermin, er war froh, als ihn dann alle in Ruhe ließen. Kratschmer, der Sport- und Biologiestudent, war schon immer jemand, der Medientermine eher unwillig absolvierte.

Aber vom „Stern“ ließ er sich doch überreden, in Moskau den Zehnkampf zu beobachten. Seine Gefühle, seine seelischen Schmerzen, das war Lesestoff. Also saß Kratschmer in Moskau auf der Tribüne, und als unten der Zehnkampf lief und er „am liebsten aufgestanden und gegangen wäre“, da durfte er es nicht. Er erzählte dem „Stern“-Reporter irgendwas, Hauptsache, es war bald vorbei. Denn Gold gewann Thompson.

Mitten in Moskau lief er dann noch Nikolai Avilow über den Weg, dem Russen, der 1972 einen Zehnkampf-Weltrekord aufgestellt hatte. Zufall, dachte Kratschmer zuerst. Später hatte er Hinweise, dass die Begegnung vom russischen Fernsehen inszeniert worden war. Die Bilder konnten ja auch als auch Botschaft verkauft werden: Der deutsche Star protestiert symbolisch, mit seiner Anwesenheit, gegen den Boykott.

Kratschmer belegte 1984 noch Platz vier bei Olympia, 1986 hörte er auf. Jetzt ist er 55 Jahre alt und lebt als Selbstständiger in einem Dorf bei Mainz. Er hat das Trauma Olympiaboykott überwunden, sagt er. Aber noch nicht lange. Kratschmer: „Es hat 20 Jahre gedauert, bis ich es geschafft habe.“ Frank Bachner

Olaf Heukrodt

Olaf Heukrodt hörte es im Autoradio. Die DDR wird nicht bei den Olympischen Sommerspielen 1984 in Los Angeles antreten, verkündete der Nachrichtensprecher nüchtern. Die Sicherheit der Mannschaft sei nicht gewährleistet. Den Rest nahm Heukrodt nicht mehr richtig auf, er musste aufpassen, dass er keinen Unfall baute. Eine Flut von Gedanken schoss ihm durch den Kopf, darunter immer wieder zwei Namen: Birgit und Alexander Schuck. Birgit war seine Frau, Schuck sein Partner im Zweier-Kanadier. Drei Opfer eines niederschmetternden Entschlusses von SED-Funktionären. Seine Frau war Goldkandidatin im Schwimmen, Schuck hätte in Los Angeles endlich mal einen Olympiasieg erreichen können. Im Boot mit dem Magdeburger Heukrodt. „Gold wäre drin gewesen“, sagt Heukrodt. Zweimal Gold sogar. Mit Schuck hatte er über 1000 Meter zuletzt alle Gegner in Grund und Boden gefahren, im Einer über 500 Meter war er zweifacher Weltmeister.

„Ein Tiefschlag“, sagt Heukrodt. „Man kann sich nicht vorstellen, was da zusammenbrach.“ Und dann ausgerechnet Sicherheitsprobleme als Begründung. Das fühlte sich an wie ein weiterer Tritt auf einen Wehrlosen. 1983 war Heukrodt mit DDR-Kanuten in Los Angeles. Sie hatten die olympische Kanustrecke getestet. Alles war friedlich, Vögel zwitscherten, Bäume säumten das Ufer, außer ein paar Sportler und Trainern war niemand zu sehen. Am Abend hatten US-Amerikaner die DDR-Kollegen ins Hotel gefahren.

Jeder wusste, dass die DDR nur dem Boykott des Russen folgte, jeder wusste, dass die Begründung vorgeschoben war. Aber nur Leute wie Heukrodt wussten, wie sehr sie das war.

Also fuhr er zum Zelten. 14 Tage lang verzog er sich, genau während der Olympischen Spiele. Heukrodt brauchte Abstand, er wollte nichts von Olympia hören. Es gelang ihm nicht wirklich. Er besorgte sich Zeitungen und studierte die Kanu-Ergebnisse. Die Rumänen waren stark, die Rumänen durften starten. Er gönnte es ihnen. „Man hat sie innerlich beglückwünscht, dass sie dort antreten konnten.“ Gold, das zeigten ihm die Siegeszeiten, hätte er trotzdem gewonnen.

Er fuhr dann, allein und mit Schuck im Zweier, beim „Wettkampf der Freundschaft“ in Moskau. Was für ein Name, Heukrodt schafft es, in seine sanfte Stimme bitterste Ironie zu legen, wenn er ihn ausspricht. In Moskau ließen sie dann alle hinter sich, die ganze Weltelite. Die versammelte sich ja damals im Ostblock. Aber das berührte ihn kaum. Er hakte die Siege ab wie Posten auf einem Einkaufszettel. Es gab keinen Sportler, sagt Heukrodt, der nicht traurig, sauer oder verbittert war. Später hörte er, selbst der mächtige DDR-Sportchef Manfred Ewald, der stramme Funktionär, habe gegen das Startverbot gekämpft.

Zu Hause fühlten sie mit Heukrodt. Beim Sportlerball in Magdeburg klopften sie ihm auf die Schultern, sie sagten: „Lasst euch nicht unterkriegen“, auch auf der Straße sprachen ihn Fans an. Heukrodt lächelte dann immer mechanisch. Er funktionierte, wenn er sich bedankte. Aber war zugleich auch weit weg. „Ich habe Jahre gebraucht, um das zu verarbeiten“ sagt er. Heute ist er 46 und Präsident des Deutschen Kanuverbands. Es ist ein Job, in dem er gelernt hat, Emotionen zu kontrollieren. Aber als er erzählt von damals, da sagt er plötzlich: „Mir kommt jetzt wieder alles hoch.“

1988 wurde er in Seoul dann doch noch Olympiasieger. Ein großer Trost ist das nicht. Frank Bachner

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