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Kader

© dpa

Resümee vor dem Finale: Einzelkritik: Von Lehmann bis Klose - und natürlich Neuville

Nach Spielen der Deutschen konnten Sie hier die Einzelkritik für jeden beteiligten Spieler lesen und diskutieren. Vor dem Finale hat sich unser EM-Reporter Stefan Hermanns nun den gesamten Kader vorgenommen.

TOR
Jens  Lehmann: Hatte überragende Auftritte, zum Beispiel bei der ersten Pressekonferenz in Tenero, als er sich vor der Weltpresse aufbaute und fragte: „Soll ich stehen bleiben, dann biete ich mehr Angriffsfläche?“ Hat seine Angriffsfläche im Laufe des Turniers immer mehr reduziert, weil er plötzlich selbst den Flatterball immer besser zu fassen bekam, Per Mertesacker immer seltener über den Haufen rannte, bei Flanken immer häufiger den richtigen Laufweg durch seinen Strafraum fand und auch sonst die Ruhe eines 38-Jährigen ausstrahlte. Verbesserte auch bei seinem Ausrüster Nike seine Sympathiewerte noch einmal, indem er wieder ausführlichst über die Eigenschaften des Turnierballes vom Konkurrenten Adidas herzog.

Robert Enke: Seine Beförderung zur Nummer zwei beruhte offensichtlich auf einem Denkfehler: Enke sollte Druck auf Jens Lehmann ausüben und die Nummer eins zu Höchstleistungen treiben. Ausgerechnet der sympathische, intelligente, zurückhaltende Enke? Es gibt nur einen Torhüter, den Lehmann so sehr fürchtet, dass er ihn zu Höchstleistungen hätte treiben können: Oliver Kahn.

René Adler: Lehmann ist 38 Jahre alt, Enke auch schon über 30 – Adler kann gar nicht anders, als als Mann der Zukunft zu gelten. Doch leider gibt es seriöse Indizien, dass er seine Zukunft schon hinter sich hat: Noch nie ist Deutschlands dritter EM-Torhüter später zur Nummer eins aufgestiegen, weder Junghans, noch Roleder, Reck, Butt oder Hildebrand.

ABWEHR
Christoph Metzelder: Hat sich wieder einen schicken Bart stehen lassen wie bei der WM 2006. So war er zumindest zweifelsfrei als jener Spieler zu identifizieren, der vor zwei Jahren mit Per Mertesacker die beste Innenverteidigung des Turniers gebildet hat. Bekam von Löw alle Zeit der Welt, sich nach seiner Verletzung wieder in Form zu bringen. Nutzte dieses Angebot schamlos aus. Christoph Metzelder wird als Spieler in die Geschichte eingehen, für den selbst das EM-Halbfinale noch eine Art Vorbereitungsspiel war.

Per Mertesacker: Spielte anfangs bartlos gut, näherte sich dann aber immer mehr dem Niveau seines bärtigen Nebenmannes an. Fußball ist nicht gerecht. Sein selbstloser Einsatz für Metzelder wurde mit zunehmender Tatterigkeit belohnt, bis er im Halbfinale zum ersten Mal der schlechtere der beiden Innenverteidiger war. Erschreckend, was Mertesacker auch alles kann: schlecht stehen, falsch laufen, Zweikämpfe verlieren, unnötig foulen. Fehlte bisher in seinem Repertoire.

Philipp Lahm: Ist klein und kann trotzdem fast alles. Soll in seiner Schulzeit in einem Theaterstück sogar einmal einen Baum gespielt haben und hat vermutlich selbst das ohne technische Fehler hinbekommen. Könnte sich sogar einen Bart stehen lassen, ohne dass sein Spiel darunter leiden würde. Und selbst wenn gar nichts bei ihm zusammenläuft, wie im Halbfinale, kommt er aus einem solchen Spiel noch mit einem positiven Saldo heraus: Verschuldete ein Gegentor, war aber an zwei Treffern maßgeblich beteiligt.

Arne Friedrich: Musste öffentlich eingestehen, dass er seine Position als bester Tischtennisspieler der Mannschaft eingebüßt hat – an Philipp Lahm, wen sonst? Wahrscheinlich weil Friedrich zu hart auf dem Fußballplatz trainiert hat. Der Bundestrainer lobte mehrmals seinen Eifer, bis er gar nicht anders konnte, als ihn mal spielen zu lassen. Ist jetzt nicht mehr nur der Schrecken der eigenen Stürmer, die seine Flanken über sich hinweg oder ins Toraus fliegen sehen, sondern auch der Schrecken von Cristiano Ronaldo. Das können nicht viele von sich behaupten.

Marcell Jansen: Immer wenn der Bundestrainer Jansen sieht, bekommt er ein schlechtes Gewissen. Zwang den Außenverteidiger gegen Polen und Kroatien dazu, seine Rolle extrem offensiv zu interpretieren – und nahm ihn dann wegen offenkundiger Defizite in der Defensive aus der Mannschaft. Weil Jansen trotzdem nicht aufbegehrte, wird er jetzt zum Dank immer kurz vor Schluss eingewechselt.

Heiko Westermann: Fiel nur zweimal vor und während der EM auf: Zum ersten Mal, als seine Frau eine Tochter zur Welt brachte, und dann noch einmal, als er sich beim Handballspiel der Reservisten eine Knochenabsplitterung zuzog. Durfte anschließend die Glücksmanschette von Philipp Lahm auftragen. Bei Westermann aber wirkt sie nicht so wie bei Lahm während der WM 2006. Schoss nicht das erste Tor für die Deutschen im Turnier und spielte sich auch nicht in das Herz von Maradona. War aber auch schwierig, weil er bis jetzt überhaupt nicht spielte.

MITTELFELD
Michael Ballack: Steht vor einem unvergesslichen Sommer. Wird im Juli seine Lebensgefährtin heiraten, mit der er schon seit zehn Jahren zusammen ist. Vielleicht wollte er warten, bis er ihr richtig was bieten kann, einen internationalen Titel zum Beispiel. Bei seinem Freistoß gegen Österreich hat der Capitano gezeigt, dass er Entschlossenheit kann. An Ballack hängt viel. Doch vielleicht kann er gar nicht spielen. Die Wade zwickt wieder. Es könnte auch wieder ein trauriger Sommer werden..

Torsten Frings: Erlebte während der EM die Wiederaufführung seines schlimmsten Albtraums: Es ist Halbfinale, und er darf nicht mitspielen. So wie vor zwei Jahren. Musste auch im Halbfinale gegen die Türkei zusehen, weil seine Rippe gebrochen ist. Als die Deutschen erneut auszuscheiden drohten, durfte er dann doch noch mitmachen. Zum Glück. Grätschte gleich wie wild, kämpfte, was das Zeug hielt – und spürte keinen Schmerz. Darf jetzt mehr denn je glauben, dass Deutschland mit ihm auch vor zwei Jahren ins Finale eingezogen wäre.

Bastian Schweinsteiger: Hört in fußballerischen Dingen jetzt nur noch auf die Kanzlerin. Angela Merkel hat ihm vor dem Viertelfinale gegen Portugal sinngemäß gesagt, er solle wieder gut spielen. Hat Schweinsteiger dann einfach mal gemacht. Zuvor nicht immer so folgsam. Ignorierte den Rat des Bundestrainers, sich von den Kroaten nicht provozieren zu lassen. Schubste gleich nach der ersten Provokation zurück und sah Rot. Ein Segen für die Mannschaft: Weil Schweinsteiger seine Sperre auf der Tribüne neben Angela Merkel (s.o.) absitzen durfte.

Simon Rolfes: Hat bei der EM enorm gewonnen. Trägt seit dem Halbfinale eine Narbe unter der linken Augenbraue, die ihn jetzt auch als deutschen Kämpfer ausweist. Stand zuvor unter dringendem Schönspielerverdacht, weil er den gepflegten Pass der eingesprungenen Grätsche vorzieht. Passt damit perfekt ins Beuteschema des Bundestrainers. Gegen Portugal zeigte Rolfes, dass er nicht unbedingt ein Mann für die Zukunft sein muss – sondern auch für die Gegenwart.

Thomas Hitzlsperger: Müsste sich mit Rolfes einmal darauf verständigen, wer bei der EM 2012 den Ballack und wer den Frings spielen soll. Hat sich mit seinen vertikalen Pässen im Spiel gegen die Türkei, vor allem mit dem vor Lahms Siegtor, für mehr empfohlen als die Rolle des Frings-Doubles. Wird wohl am Sonntag neben dem Bremer in der Startelf stehen und mit seiner ausgeglichenen Art einen Gegenpol zu Frings und dessen manchmal wütendem Aktionismus bilden.

Tim Borowski: Um Borowski zu Höchstleistungen zu treiben, ist die gezielte Provokation ein geeignetes Mittel. Für den Mittelfeldspieler war die ganze EM eine gezielte Provokation. Durfte in letzter Minute gegen Österreich aufs Feld, gegen Portugal eine Viertelstunde vor Schluss – und verpasste im Halbfinale gegen die Türkei einen weiteren Minuteneinsatz, weil er sein Trikot nicht rechtzeitig übergezogen hatte. Immerhin: Ist nach seiner schweren Grippe wieder vollkommen gesundet. Muss er auch, wenn er vielleicht im Finale Michael Ballack ersetzen soll.

Clemens Fritz: Spricht ein bisschen wie sein thüringischer Landsmann Bernd Schneider, spielt aber leider nicht so. Verausgabte sich gegen Polen in 50 Minuten so sehr, dass er danach nur noch punktuell zu gebrauchen war. Fiel aber auch Löws plötzlicher Offensivphobie zum Opfer.

Piotr Trochowski: Enorm wichtig für die soziale Hygiene im Kader. Begleitete den frustrierten Marcell Jansen zur Bootstour und diente dem zu Selbstzweifel neigenden Miroslav Klose als Sparringspartner beim Tennisspiel. Verlor dankenswerterweise in zwei Sätzen. Für seine Verdienste belohnt ihn Löw im Finale mit seinem ersten Einsatz bei der EM – wenn Deutschland nach 75 Minuten 4:0 führt.

David Odonkor: Wird Löw fortan an die schlimmste Fehlentscheidung seiner Amtszeit erinnern: Wie der vermeintliche Jogi Cool die Nerven verlor, gegen Kroatien schon zur Pause zum letzten Mittel griff und Odonkor einwechselte. Das löste eine unkontrollierbare Kettenreaktion aus, die dazu führte, dass Odonkor am Ende rechter Verteidiger spielte. Damit Löw nicht wieder in Gefahr gerät, ihn einzuwechseln, wird er Odonkor gar nicht mehr nominieren.

STURM
Miroslav Klose: Den schlimmsten Moment der EM hat er mit Bravour überstanden. Musste an seinem Geburtstag eine Ansprache an die Mannschaft halten. Vor der EM wollte er nicht einmal sagen, wie viele Tore er sich vorgenommen hatte. Schoss bisher zwei, was zwei mehr sind als vor vier Jahren – aber auch drei weniger als bei seinen beiden WM-Teilnahmen. Hat am Sonntag also noch was vor.

Mario Gomez: Wie eine Technologieaktie am Neuen Markt kurz vor dem Börsencrash. Machte sich extremer Kapitalvernichtung schuldig, indem er durch Stümperei vor dem Tor innerhalb von drei Wochen seinen Marktwert in etwa halbierte. Ist im Unterschied zu den meisten Start-ups immer noch gut dotiert, vor allem aber ist bei Gomez genügend Substanz vorhanden, mit der sich die Fantasien der Anleger seriös begründen lassen.

Lukas Podolski: Musste vom Sturm zurück ins Mittelfeld, spielt im Mittelfeld aber so, als wäre er noch Stürmer. Schoss drei Tore, so viele wie kein anderer Deutscher, und bereitete zwei weitere vor – beteiligte sich dafür nur alibimäßig an der Defensivarbeit, die im modernen Fußball leider auch zum Anforderungsprofil an einen Mittelfeldspieler gehören. Podolski passt damit perfekt zu dieser Mannschaft, die im Zweifelsfall eben vorne einfach ein Tor mehr schießt, als sie hinten zulässt.

Kevin Kuranyi: Hat vor zwei Jahren gedacht, die schlimmste Erfahrung seiner Karriere bereits hinter sich zu haben, als er von Klinsmann aus dem WM-Kader gestrichen wurde. Hat sich getäuscht. Noch schlimmer ist es, nominiert zu werden und nicht zu spielen – weil er sich als Mitglied des Wir-ham-uns-alle-lieb-Kaders nicht einmal beschweren darf.

Oliver Neuville: Hat besondere Fähigkeiten. Stammt aus Ascona und könnte seinen Kollegen bei Bedarf mit Sicherheit sagen, wo man abends mal hingehen kann, ohne ausschließlich von 60 Jahre alten Frührentnern mit eigener Yacht umgeben zu sein. Schießt aber auch gelegentlich wichtige Tore. Kann ja noch kommen.

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