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© dpa

Sechstagerennen: Noch ’ne Runde Bier

Das Berliner Sechstagerennen zwischen Sport, Single-Party und Après-Ski. Eine Reportage

Liebevoll hält er die Analog-Stoppuhr in seiner rechten Hand, streichelt ab und an mit dem Daumen darüber, in der linken Hand den kleinen Zettel. Den Blick wie gebannt auf die polierte Holzbahn gerichtet, ist er kaum ansprechbar, wenn die Radprofis mit dem Schleudergriff abwechselnd die Führung übernehmen. Natürlich weiß Karl Schächtle, dass es Unsinn ist, jeden Rundengewinn auf dem kleinen Zettel zu notieren. Direkt über seinem weißen Haarschopf dokumentiert die neue Anzeigentafel des Velodroms alle Details. Doch Karl Schächtle schreibt seit 44 Jahren jedes Ergebnis mit. „Es gehört für mich zum Sechstagerennen dazu“, sagt der 75-Jährige.

Menschen wie Karl Schächtle sind es, von denen die Veranstalter des Sechstagerennens sprechen, wenn sie das fachkundige Berliner Publikum loben. Andauernd preisen sie den Kontrapunkt an, den Berlin zum einzigen anderen noch übrig gebliebenen deutschen Sechstagerennen in Bremen bildet. „In Bremen geht es zur Sache. Nur die Radfahrer stören, sagen viele“, erzählt Heinz Seesing, Geschäftsführer des Berliner Rennens. Ob Veranstalter, Hallensprecher oder Fahrer – alle bestätigen, wie nah das Berliner Publikum dagegen am Rennen dran ist.

Als sich aber die Fahrer am Freitagabend kurz nach 23 Uhr auf die Große Jagd begeben, dem Herzstück des Sechstagerennes, sind die Ränge nur halb besetzt – obwohl 12 000 Zuschauer da sein sollen. Auf der Bahn liefern sich die Zweier-Teams ein packendes Rennen. Es ist den Veranstaltern auch in diesem Jahr gelungen, ein Feld von internationalen Spitzenfahrern nach Berlin zu locken. Wenn auch die schillernden Namen wie Erik Zabel oder Bruno Risi nicht mehr dabei sind.

Namen, die einem nicht unerheblichen Teil des Publikums ohnehin nichts sagen. Jenen, die, als die Spannung der Großen Jagd den Höhepunkt erreicht, nebenan in „Schlüters Alpenwelt“ zum einzig großen Hit der Village People Disko-Fox tanzen. Ein DJ erfreut hier begeisterte Mittvierziger mit Hits von „Skandal im Sperrbezirk“ bis DJ Ötzi. Die Stimmung liegt zwischen Single-Party und Après-Ski. Es riecht nach Schweiß und abgestandenem Bier. Und es gibt Schmalzbrote.

Marc ist mit seinem Freund Gustav gekommen, „um Bier zu trinken“, wie er sagt. Bezahlt haben sie ihre Karten nicht. Wie die wenigsten, die sich hier vergnügen. Sie haben Sponsorenkarten von Geschäftspartnern, Freunden, den Veranstaltern direkt erhalten. „Wenn ich für die Karte bezahlt hätte, würde ich mir mehr Rennen angucken“, sagt Marc. Doch wäre er auch bereit, für eine Karte 30 Euro auszugeben? „Wohl eher nicht“, sagt er. „Es geht doch hier vor allem um den Spaß.“ Zu ihren Karten haben sie je drei Biergutscheine bekommen. „Sicher werden wir nachher auch noch mal rausgehen“, sagt Marc, der aussieht, als habe er seine Gutscheine lange aufgebraucht. Ob sie denn nicht die Große Jagd sehen wollten? „Wann fängt die denn an?“, fragt Gustav. Sie läuft seit einer halben Stunde.

Heinz Seesing scheint das gleich zu sein, trotz allen Lobes auf das Fachpublikum. „Niemand kann sechs Stunden auf seinem Stuhl sitzen“, sagt der Geschäftsführer. Offenbar ist ihm bewusst, dass die echten Radsportbegeisterten langsam aussterben. „Der Radsport war die Sportart Nummer eins in der ehemaligen DDR“, sagt Seesing. „Deswegen gibt es hier eine ganz andere Begeisterung als anderswo.“ Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ist es folglich nur eine Frage der Zeit, bis die Ernüchterung, die sich nach den Doping-Skandalen um T-Mobile, Jan Ullrich und all die anderen im Rest der Republik breitgemacht hat, auch das Berliner Sechstagerennen erreicht. Das Punktesystem ist zudem recht kompliziert; nur Experten blicken über den einfachen Rundengewinn hinaus wirklich durch.

Folglich muss die nächste Generation anders angelockt werden, wenn das Berliner Sechstagerennen die älteren Herren mit den Stoppuhren überleben will. Auch die Zuschauer in der Halle wollen unterhalten werden. Ausgestattet mit Klatschpappen des Biersponsors und Trillerpfeifen um den Hals freuen sie sich, wenn die mittelmäßige Coverband Music & Voice den Eisbären-Song spielt; sie verstehen „Die Hände zum Himmel“ als Aufforderung. Cheerleader tanzen im Innenraum. Was macht es da, wenn man nicht versteht, warum gerade Team sieben gewonnen hat und nicht Team drei?

Berlin scheint vorerst die richtige Mischung gefunden haben. Bisher war das Velodrom immer voll, auch in diesem Jahr – trotz Schnee und Eis auf den Straßen. Wie viele Karten Heinz Seesing dafür persönlich verschenkt hat, bleibt sein Geheimnis.

Karl Schächtle braucht das Brimborium nicht. Weder die Heizpilze auf der Raucherterrasse noch die Erdbeerbowle oder die Gewinnspiele auf den Gängen. In einem blauen Stoffbeutel hat er Proviant selbst mitgebracht, ebenso wie ein bunt gemustertes Sitzkissen. Seinen Platz wird er heute Abend höchstens für einen Toilettengang verlassen. Was in der Alpenwelt vor sich geht, interessiert ihn nicht. Ihm würde es ausreichen, wenn die Fahrer wie früher sechs Tage lang auf dem Rad sitzen würden. Doch dann wäre auch das Berliner Sechstagerennen schon längst Geschichte.

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