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Sport: So groß wie Frankreich

Die Tour rollt jedes Jahr durch das Land – und versetzt es immer wieder in einen Ausnahmezustand

Als Jan Ullrich und Lance Armstrong auf die Strecke gingen, war für die Gemeinde eigentlich alles schon vorbei. Sechs Monate Vorbereitung von über 100 Leuten lagen hinter Challans. Seit Mittwoch ist der Tour-Tross schon da und seit Freitag feiert die Gemeinde ein großes Volksfest. Die Anwohner werden seit Wochen über Umleitungen, Sperrungen und Veranstaltungen informiert. Es gibt eine eigene Abteilung, die sich nur mit der Organisation der Tour beschäftigt.

Auf einer großen Leinwand vor dem Rathaus wurde die Vorstellung der Fahrer live übertragen. Seit Freitagabend spielen bereits Bands auf einer großen Bühne. Auf einem Markt präsentieren die Landwirte Produkte der Region. Und ein Fahrradklub rollt mit Rädern aus dem Jahr 1910 durch die Stadt. Außerdem drehten die Fahrer kurz vor dem Start noch eine Ehrenrunde durch die Altstadt. Es gibt zudem Lotterien und Spiele für die Kinder. Der Startschuss für das Zeitfahren war da fast Nebensache.

Drei Wochen Ausnahmezustand stehen Frankreich bevor. Mal wieder. Denn schon seit 1903 zieht die Tour de France das ganze Land in ihren Bann. Viel hat sich seitdem verändert. Die Fahrräder sind High-Tech-Maschinen, die Fahrer sind austrainierter und der Tross ist größer geworden. Doch immer noch geht so eine Faszination von diesem sportlichen Großereignis aus wie vor über 100 Jahren. Aber es ist nicht bloß dieser Kampf des Menschen gegen die Natur und die Duelle des Champion gegen den Herausforderer, die den Reiz der Tour ausmachen. Das ist nicht der Grund allein, warum ganz Frankreich von diesem Ereignis immer wieder mitgerissen wird.

Vielmehr ist es eine gewisse Unmittelbarkeit, die der Veranstaltung ihren Reiz gibt. „Die Stars kommen zu den Menschen nach Hause und nicht umgekehrt – das gibt es nur bei der Tour de France“, sagt Francois Quermenera. Er arbeitet als Stadtrat in der Gemeinde Challans. Zehntausende jubelten an der Strecke in Challans den Fahrern zu. Und das alles kostenlos. „Die Leute müssen nur aus ihren Häusern raus, und schon sind sie mittendrin, es gibt keine langen Wege in ein Stadion oder eine Halle, wo sie viel Geld bezahlen müssen, sondern sie bekommen ihre Stars live und kostenlos vor die Haustüre geliefert“, sagt Quermenera.

Von der Tour können einfach alle profitieren: Gastronomen, Bauern, Händler und Politiker. Nun ist Challans als erster Startort am Beginn der Tour natürlich in einer besonders komfortablen Situation, weil der Wanderzirkus Tour de France besonders lang in der Stadt residiert. Aber in allen anderen Etappenorten sieht es nicht sehr viel anders aus. Jede Stadt und jede Gemeinde lässt sich etwas Besonderes einfallen. Die Stadtverwaltungen haben für Wochen nichts anderes zu tun, als das Ereignis vorzubereiten und die Stadt herauszuputzen.

Jedoch sind nicht nur die kleinen und großen Städte, durch die die Karawane rollt, infiziert, sondern das ganze Land scheint elektrifiziert. Selbst das große Paris, das manchmal so gar nichts mit dem Rest Frankreichs zu tun hat, gibt sich der Tour hin.

Kaum eine Brasserie hat in diesen drei Wochen nicht ständig den Fernseher laufen. Jacques hat einen kleinen Zeitungskiosk am Centre Pompidou, dem größten Museum für Moderne Kunst in Europa, und auch er ist immer wieder angetan: „Obwohl man heute nicht weiß, ob die nun gedopt sind oder nicht, verfolge ich die Tour mit viel Leidenschaft, es gehört einfach zu Frankreich dazu“, sagt er und schaut dabei mit seinem Schnauzer stolz aus seinem Zeitungsberg hervor. Die zahlreichen Magazine zur Tour gingen ruckzuck über seine kleine Theke.

Die Tour ist eben ein Gesellschaftsphänomen. Es hat etwas mit Nationalstolz zu tun. Dabei spielt es keine große Rolle, dass seit zwanzig Jahren kein Franzose gewonnen hat. Bernard Hinault war 1985 der bislang letzte Sieger für die Franzosen, die so gerne ihre Identität im großen vereinten Europa bewahren wollen. Und dafür ist die Tour auch ohne Sieger aus Frankreich wie geschaffen.

Die Fernsehübertragungen sind wie ein fünfstündiger Werbefilm über alle Regionen des Landes. Die landschaftliche Vielfalt kennen viele vor allem von der Tour. Die stürmische Bretagne, die steilen Alpen und Pyrenäen und die heiße Provence – das alles gibt es frei Haus zu sehen. Die sportlichen Duelle sind da beinahe eine kleine Randerscheinung.

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