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Sport: Taktik und Teamgeist

Vor Beginn der Fußball-EM wissen die Deutschen nicht, wo sie stehen – da helfen nur alte Tugenden

Tief unter der Erde scheint keine Sonne. Aber dort, quasi im Keller des deutschen Mannschaftsquartiers in Portugal, müssen die Verantwortlichen der deutschen Nationalmannschaft in einem riesigen Konferenzsaal nun den täglichen Lagebericht an die Nation abgeben. Gestern, am ersten Tag nach der Ankunft, gab es gleich eine Art gespielten Witz, der elegant auf das Thema hinleitete, das alle Deutschen umtreibt. Ein holländischer Journalist wendet sich sehr ernst an den Teamchef: „Herr Völler, ganz Holland fragt sich, wie gut sind die Deutschen?“ Völler holt kurz Luft, grinst und sagt: „Das wissen wir auch nicht.“

Mit dieser Erkenntnis müssen nun also alle leben, zumindest bis zum Auftaktspiel am kommenden Dienstag gegen die Niederlande. Gestern war nicht mehr an Erhellung möglich, die entscheidende Eingebung aber hatte der Fußballspieler Fredi Bobic bereits vor dem Flug nach Portugal: „Wenn wir Holland schlagen, kann uns das bis ins Finale tragen.“ Dazu muss man wissen, dass der Stürmer von Hertha BSC gewissermaßen derjenige war, der das Team von Rudi Völler überhaupt zur Europameisterschaft geschossen hat. In Ermangelung guter Stürmer hatte Rudi Völler in der Qualifikationsphase den Europameister von 1996 in die Nationalmannschaft zurückgeholt. Das Trainingslager hatte dem 32-Jährigen ordentlich zugesetzt. Seinem Grundoptimismus konnten die Tage der Muskelschmerzen und Monotonie aber nichts anhaben. Bobic ist zuversichtlich.

Leider sagte Bobic nicht, was sein wird, wenn die Deutschen ihr EM-Auftaktspiel verlieren sollten. Einen solchen Ausgang hält die Mehrheit der Deutschen zwar für durchaus möglich, im Kreis der kickenden und leitenden Repräsentanten aber ist dieser Gedanke verpönt. „Unsere Chancen stehen gut, gegen Holland bestehen zu können“, sagte etwa Bundestrainer Michael Skibbe. „Wir werden auf dem Punkt fit sein, engagiert und konzentriert.“

So bewies einzig Rudi Völler gestern nicht nur Humor, sondern eben den notwendigen Realitätssinn: „Es ist fast schwerer, die Vorrunde zu überstehen, als dann weiterzugehen.“ In der Gruppenphase treffen die Deutschen noch auf die weitgehend unbekannten Letten (19. Juni) und die für viele als Geheimfavoriten gehandelten Tschechen (23. Juni). Aber, und das spricht für den Kämpfer in Völler, „ich gehe davon aus, dass wir auf jeden Fall das Viertelfinale erreichen“.

Die Grundstimmung in der deutschen Bevölkerung ist durchaus vergleichbar mit der vor der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren. Auch damals spielte die deutsche Elf eine holprige Qualifikation und musste sogar in die Relegation. In den beiden Ausscheidungsspielen gegen die Ukraine setzte sich Völlers Team schließlich souverän durch. Diese beiden Spiele, die Völler als die bisher schwersten seiner fast vierjährigen Amtszeit bezeichnet, galten als Geburtsstunde einer neuen, wieder erfolgreichen deutschen Mannschaft, die es bis ins WM-Finale brachte. Diesen Erfolg hatten der Mannschaft die wenigsten zugetraut. So ähnlich verhält es sich auch jetzt, wenn am Samstag die EM-Endrunde beginnt. Niemand weiß so recht, wie gut oder wie schlecht die Deutschen anno 2004 wirklich sind. Wenn Völler nicht gerade von einem Holländer gefragt wird, dann sagt er: „Nicht so schwach, wie immer behauptet wird, aber auch nicht so stark, wie über uns nach der WM 2002 geschrieben wurde.“ Wackelige und schöne Siege über Färöer, Belgien oder Malta stehen herben Niederlagen gegen Spanien, Holland und Frankreich gegenüber. Vor allem die Niederlagen gegen Rumänien (1:5) und das 0:2 gegen Ungarn haben das Vertrauen der Deutschen in ihr Team nicht gerade verstärkt.

Völler weiß, dass er aus den Nowotnys, Kloses und Bobics keine Nestas, van Nistelrooys oder Henrys mehr macht. Schon deshalb konzentriert er seine Arbeit auf drei Aufgabenfelder: gute taktische Organisation, körperliche Topform und absoluter Teamgeist – „ohne diese Grundlagen läuft bei uns nichts“. Die Stimmung jedenfalls ist gut innerhalb der Mannschaft. „Es gibt keinen Stinkstiefel, jeder versucht, dem anderen zu helfen“, findet Michael Ballack.

Völler hat es geschafft, dass niemand sein eigenes Interesse über das Teaminteresse stellt, obgleich einige wie Ballack, Kahn, Frings oder Schneider noch nicht wissen, für welchen Verein sie in der nächsten Saison spielen werden. Pikanterweise handelt es sich um Spieler, von denen es abhängen wird, wie erfolgreich man abschneiden wird. Nur wenn Kahn ein ähnliches Niveau wie 2002 erreicht, Ballack die entscheidenden Treffer gelingen und Frings und Schneider ihn entlasten, kann es Völlers Team weit bringen.

„Die restlichen Rädchen müssen dann nur noch ineinander greifen“, sagt Abwehrchef Jens Nowotny. Oder wie sagte es Völler kürzlich: „Das Schöne am Fußball ist, dass er anders ist als die Formel 1. Es gewinnt nicht immer der Beste.“

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