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Olympiastadion: Olympia, WM und Zweite Liga.

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Titus Chalk jetzt auch auf Deutsch: Bekenntnisse einer Hertha-Jungfrau

Vor sechs Monaten kam Titus Chalk aus London nach Berlin. Im ersten Teil einer Serie über Fußballkultur in Berlin muss er sich nun gleich der größten Herausforderung stellen, die auf fußballinteressierte Neuzugänge in Berlin wartet: Hertha BSC.

Man merkt sofort, dass ich eine Hertha-Jungfrau bin. Ich habe aus Versehen Karten für den Familien-Block gekauft, wo acht Jahre alte Dreikäsehochs mit zu viel Gel in den Haaren zaghaft ihre Schals in die Höhe halten und die Club-Hymne singen, bevor sie dann wahlweise mit dem Finger in der Nase oder mit dem Gesicht in einem Becher Eiscreme hängen bleiben. Die kleinen Bengel auf Tagesauflug mit ihren Vätern sind natürlich ganz reizend - nur entspricht ihre Gesellschaft nicht ganz dem Fan-Erlebnis, hinter dem ich her bin. Ich werde das Gefühl nicht los, dass all das niemals vorgefallen wäre, hätte ich mich bei "Kaiser's" für den Spieltag ausgerüstet, denn ich vertraue dem Supermarkt bedingungslos, mich mit allem Lebensnotwendigen auszustatten: Früchten von höchster Qualität, Gemüse, und äh .... Karten für größere Sportveranstaltungen.

"Schatz", fragt meine Freundin, als die Spielzeit die 30-Minuten-Marke überschreitet, "auf welchem Tabellenplatz liegt eigentlich Paderborn?" "Sie sind Dreizehnter, Darling", antworte ich. "Warum hat Hertha dann noch nicht getroffen?" fragt sie. "Uuufff", antworte ich und atme langsam aus, während ich mich darauf vorbereite, den Satz "Der Launen sind in diesem schönen Spiel Myriaden" zu sagen. Doch bevor ich zu einer weitschweifigen Erklärung über das aufregende Gebräu aus Taktik, psychologischen Faktoren und göttlichen Launen ansetzen kann, das die Fußballkunst zu der undurchschaubaren Gebieterin macht, die sie nun einmal ist, bekommt Hertha endlich den Ball ins Netz und bewahrt mich vor einer sinnlosen Tirade, die diesen lieblichen sonnigen Nachmittag nur verdorben hätte.

Ohne Worte.
Ohne Worte.

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Meine Freundin war - natürlich - schon öfter bei Hertha als ich. Trotzdem könnte sie dafür, dass sie ihre blau-weißen Schals einpackte, als der West-Berliner Riese im vergangenen Sommer in die Zweite Liga taumelte, durchaus von einigen als Schönwetterfan bezeichnet werden. Ihr Anfall von Groll repräsentiert aber eine wichtige Facette jener Hertha-Identität, die so durcheinander zu sein scheint wie alles andere in dieser schizophrenen Stadt. Die eine wirft angeekelt ihre Schals weg, zugleich strömen andere zum ersten Mal zu Spielen eines Clubs, der noch kurz zuvor als öde, konservativ und als die berühmte "Alte Dame" verschrien war.

Durch ihr Loser-Dasein sind die Herthaner verjüngt worden und haben endlich eine Gemeinsamkeit mit der fußballerisch durch sie repräsentierten Stadt, der Faulenzerhauptstadt Europas. Werden die neuen Fans auch in der kommenden Saison bleiben, wenn Hertha nicht mehr der tapfere Zweitliga-Underdog ist? Wer weiß? Aber der harte Kern in der Ostkurve wird auf jeden Fall da sein. Diese Leute sind ein großartiger Blickfang, mit Abstand die Hauptattraktion des Nachmittags, und groß in Form trotz der drückenden Hitze. Sie hüpfen unter dem blauen Himmel, heben das Dach mit ihren Stimmen und recken ihre Mittelfinger leidenschaftlich in die Höhe, als der Paderborner Kader vorgestellt wird.

Ich kann ihnen nur einen sehnsuchtsvollen Blick aus dem Familienblock zuwerfen und mir wünschen, auch ich könnte mich in einen kleinen, trunkenen Fangesang einbringen. Manche Texte der Gesänge übersteigen meine limitierten Deutschkenntnisse, aber mit "Sha la la la" und "Scheiß Union" kann selbst ich klarkommen. Die prächtig aufgelegte Ostkurve fesselt mich und der Fußball verschwindet im Hintergrund, auch, weil er in einem Stadion mit Laufbahn nun einmal sehr weit entfernt stattfindet. Hertha schießt schnell das entscheidende zweite Tor gegen spielerisch sehr limitierte Paderborner. Das Spiel ist gelaufen und zur Halbzeit bereits nurmehr eine angenehme Zerstreuung, wie ein besonders schönes Wasserspiel in einem Landschaftspark, der plötzlich von 70.000 Zechern in Beschlag genommen wurde. Die Stimmung ist gut und das Stadion ist voller lächelnder Gesichter, während man kollektiv in die Richtung jenes leuchtenden gelben Flecks am Himmel blickt, dessen Existenz man in den vergangenen sechs Monaten schon ganz vergessen hatte.

Drin: Hertha 2, Paderborn 0.
Drin: Hertha 2, Paderborn 0.

© Photo: dpa

Die Halbzeitpause selbst wird von mir mit einem Hot Dog überbrückt. Ich weiß natürlich, dass ich von Rechts wegen in eine Bratwurst beißen sollte, aber aus welchen Gründen auch immer kommt mir statt einer gebratenen eine gekochte Wurst in den Sinn. Ich denke, es könnte mit den kleinen Packungen mit Leckereien zu tun haben, die dem Hot-Dog-Wagen beigefügt sind und mit denen ein hungriger Mann sein dampfendes Fleisch-Schwert verzieren kann. Senf und Ketchup: check. Geröstete Zwiebeln, Essiggurken, Sauerkraut und Chili: Check, check, check und check! Der Schlüssel zu einem aufregenden Fast Food ist, dass es als Auflagefläche für die kleinen Zutaten fungieren kann, die zu essen uns heimlich am meisten Freude bereitet. Der Hot Dog ist solch eine starke Saucenplattform und ich esse meine vollgeladene Wiener mit Freude.

Die Massen, die während der Pause hinaus in den Sonnenschein schwappen, sind ein angenehm bunter Haufen: stämmige Typen in Lederwesten, Halbwüchsige, die Vokuhilas mit einer starken Anmutung von überfahrenem Tier zur Schau stellen, und kichernde Mädchen, die ihre Kurven in hautengen blau-weißen Hemden präsentieren. Wie kann man da einen wirklichen Fan erkennen? Nach einiger Beobachtung und Überlegung fällt mir Folgendes auf: Die treusten Fans tragen mindestens drei Schals gleichzeitig. Einen um den Hals, einen ums Handgelenk gewickelt und einen in den Hosenbund gesteckt. Um Extra-Punkte zu gewinnen, sollte der Schal auch noch in ein anderes Kleidungsstück eingearbeitet sein, etwa in einen feschen Rock nur aus Fanschals oder als betont fransige Einfassung einer Jeansjacke. Alles in allem spielt die Schal-Mannschaft der Hertha-Fans derzeit auf einem Level, das ich noch nicht erreichen kann.

Mission Wiederaufstieg. Hertha ist auf dem besten Weg zurück in die Bundesliga.
Mission Wiederaufstieg. Hertha ist auf dem besten Weg zurück in die Bundesliga.

© Photo: dpa

Wie Sie sehen, bin ich nicht wirklich Fußballfan. Eher, um es mit Nick Hornbys Buch "Fever Pitch" zu sagen, bin ich jemand, der Fußball liebt. Der Gedanke, meine Identität rückhaltlos einer größeren Gruppe unterzuordnen, beunruhigt mich, obwohl ich mir manchmal wünsche, dass ich das könnte. Frei nach dem Motto: Lege x Schals an und gehöre x-mal mehr dazu! Vielleicht ist es etwas, an dem ich arbeiten kann in dieser Stadt, in der Massengesänge und Flaggenschwenken an einem geschichtsträchtigen Ort wie dem Olympiastadion immer auch eines bestimmten Vertrauensvorschusses bedarf, eines felsenfesten Glaubens in die positiven Kräfte des Jubels.

Einfacher ausgedrückt: Fandom ist ein weiterer Geschmack, auf den man in Berlin kommen kann, so wie Waldmeister, Eisbein oder Currywurst. Sechs Monate nachdem ich London in Richtung "Hauptstadt" verlassen habe, habe ich letztere Anverwandlungen bereits glücklich gemeistert. Ein kleiner Gang rüber zur Ostkurve beweist in der zweiten Halbzeit nur, wie verführerisch auch Fandom ist; was für ein großartiges Gefühl es ist, wenn man zu einer Zweckgemeinschaft verschmilzt, die in anderen sozialen Sphären kaum gefunden werden kann. Denn obwohl der Zweck hier vordergründig darin zu liegen scheint, Hertha zurück an die Tabellenspitze zu jubeln, zementiert es für 90 Minuten eine Gemeinschaft, deren Umarmung ihre Mitglieder in der Erinnerung bis zum nächsten Match nicht loslässt. Die Leute im Gedrängel der Kurve zelebrieren eine Messe in einem Schrein des Sports, und ihre prosaischen Hymnen sind so erbaulich wie alle anderen auch, die an einem Sonntag gesungen werden. Bis der Schlusspfiff ertönt, ist es ein Vergnügen, gemeinsam mit ihnen dem Fußball zu huldigen.

Auf unserem Heimweg müssen meine Freundin und ich, der erstaunlichen Wärme zum Trotz, die Schals bewundern, die vor dem Stadion feilgeboten werden. Ein paar Neue könnten sich als nützlich erweisen. Denn es scheint fast sicher, dass wir wiederkommen.

Titus Chalk lebt seit August 2010 als freier Journalist in Berlin. Für "11 Freunde" schreibt er eine Kolumne über die englische Premier League. Für Tagesspiegel.de schreibt er über Fußballkultur in Berlin.

Übersetzung: Johannes Schneider.

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