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Sport: Tritte, Schläge, Zwangstauchen

Langstreckenschwimmen ist Nahkampf – die Frauen bewiesen das bei der WM über zehn Kilometer

Berlin - Britta Kamrau-Corestin lebt noch. Sie war ansprechbar, sie hatte keinen glasigen Blick, sie ist bei klarem Verstand. Diese Botschaft ist wichtig, denn vor dem Strand von St. Kilda in Melbourne tobte am Dienstag ein brutaler Kampf. Offiziell schwammen rund zwei Dutzend Frauen um die WM-Medaillen über 10 Kilometer, in Wirklichkeit aber „ging es nur noch ums Überleben“, behauptete Britta Kamrau-Corestin danach. „Ich wollte bloß noch raus.“ Sie stieg als Sechste aus dem Wasser, acht Sekunden hinter der Siegerin Larisa Ilschenko aus Russland. „Ich wäre lieber mit 12 000 Quallen geschwommen als mit 20 dieser Mädels“, sagte Britta Kamrau-Corestin zu den Reportern im Ziel. Angela Maurer aus Wiesbaden überstand die Schlägerei im Wasser ebenfalls ohne größere Schäden, sie wurde sogar Vierte, aber das milderte nicht ihre Wut. „Ich habe noch nie so ein Rennen erlebt“, sagte Maurer, „wir haben ganz schön geprügelt, die ganze Zeit.“

Wir – das ist das entscheidende Wort. Täter und Opfer, diese klare Rollenverteilung gibt es nicht beim Langstreckenschwimmen. „Es ist ja nicht so, dass ich nur einstecke, aber es gibt Grenzen“, sagte Britta Kamrau-Corestin. Sie wurde schließlich 2004 nicht Doppel-Weltmeisterin über 10 und 25 Kilometer, weil sie besonders feinfühlig durchs Wasser pflügte. „Das sind alles keine Lämmchen“, sagt Christian Hansmann dem Tagesspiegel. Er hat das Rennen beobachtet, er arbeitet jetzt als Medienbeauftragter beim Deutschen Schwimmverband. Davor war er Spitzen-Marathonschwimmer, Sechster bei der WM 2005 über 25 Kilometer. Der 30-Jährige kennt die Nahkampfregeln im Wasser. „Da schlägt man auf die Füße oder zieht einen unter Wasser“, sagt Hansmann. „Beliebt bei Frauen ist es, sich am Badeanzug festzuhalten und sich dann abzustoßen. Oder man schwimmt plötzlich Brust, weil man so gleich zwei Gegnerinnen mit den Füßen treten kann.“ Gängige Methode ist auch der Griff zur Brille eines Konkurrenten. „Die verrutscht, und dann dringt Salzwasser in die Augen“, sagt Hansmann. Ab und zu versinkt eine Brille auch mal in den Fluten. „Dann kann man aufhören.“

Die wahren Nahkampfexperten laufen aber erst an einer Boje zur wahren Form auf. „Die muss man umschwimmen, weil sie ein Wendepunkt ist. Wer da nicht innen ist, verliert viel Zeit“, sagt Hansmann. Also drücken Schwimmer den Gegner hier heftig unter Wasser. Wer Pech hat und auf der falschen Seite der Boje wieder auftaucht, darf sie nochmal umkurven. Die Tritte gegen den Körper sind an der Wendemarke besonders schmerzhaft.

Über zehn Kilometer hatte die junge Shirley Keller (USA) am stärksten geprügelt, hat Hansmann beobachtet. „Das ist typisch. Die unerfahrenen Athletinnen sind oft die aggressivsten.“ Überhaupt, sagt jedenfalls Hansmann, seien Frauen brutaler als Männer. Die betrachten Tritte gegen die Rippen selbstverständlich auch als normalen Teil der Renntaktik, aber immerhin haben sie etwas wie einen Ehrenkodex. An der Badehose eines Gegners hält sich keiner fest. Auch Schläge ins Gesicht sind ein Tabu. Bei den Frauen, das haben Maurer und Kamrau-Corestin mal zugegeben, gibt es kaum Tabuzonen. Vor allem, weil Schiedsrichter sich eher zurückhalten. Sie können zwar einen rabiaten Athleten disqualifizieren, „aber das passiert leider viel zu selten“, sagt Hansmann. „Die trauen sich nicht durchzugreifen. Vielleicht, weil sie denken, da teilt jeder aus.“

Mit Schnittverletzungen im Gesicht steigt nur deshalb keine Schwimmerin aus dem Wasser, weil vor dem Start Fingernägel kontrolliert werden. Wer auffällt, muss sie abschneiden. Im Übrigen hat Hansmann wenig Verständnis für die Klagen von Maurer und Kamrau-Corestin: „Das sind alles Profis. Die sind schon auf der ganzen Welt geschwommen. Die haben doch gewusst, was sie erwartet.“

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