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© AFP

Turnen: Kleiner Quantensprung

Die deutschen Turner träumen nach Platz drei in der Qualifikation von einer WM-Medaille.

Sie tobten schon auf den Rängen, sie kreischten und klatschten, alles verdichtete sich in der Stuttgarter Schleyer-Halle zu einem Getöse, da war es eigentlich sinnlos, dass der kleine Mann neben dem Reck sie mit ausgebreiteten Armen zu noch mehr Lärm animierte. Aber Sinn, Unsinn, so was war doch Fabian Hambüchen in dieser Sekunde egal. „Da mussten Emotionen raus“, sagte er. Das Reck war sein wichtigstes Gerät, er hatte gerade 16,025 Punkte erhalten, die beste Einzel-Wertung in einem Weltklasse-Feld. Dabei war der Druck enorm, schließlich ging es um die Olympiaqualifikation bei der Turn-Weltmeisterschaft.

Eine Stunde später verschwand Hambüchen fast in der Gruppe von Athleten, Trainern und Funktionären, die ihre Spannung in Freudentänzen und Umarmungen abbauten. 8500 Zuschauer jubelten frenetisch, nur die Stimme des Hallensprechers dröhnte noch lauter: „Meine Damen und Herren, Sie sind Zeuge eines historischen Ereignisses geworden.“ Die deutschen Kunstturner katapultierten sich in die Weltspitze, sie kämpften sich auf Platz drei der Olympiaqualifikation, eine Sensation. Hambüchen verkündete ergriffen: „Der beste Wettkampf, den ich je absolviert habe.“ Für Wolfgang Willam, den Sportdirektor des Deutschen Turner-Bundes ist Platz drei „ein kleiner Quantensprung“. Und Philipp Boy schwärmte von der „megageilen Stimmung“. Der Cottbuser zog ins Mehrkampf-Einzelfinale ein, genauso wie Hambüchen. Und die Mannschaft steht heute im Teamfinale. Selbst die kantigen Gesichtszüge von Chef-Bundestrainer Andreas Hirsch wurden für einen Moment weich. „Ich habe einen Traum, ich erzähl ihn aber nicht“, sagte er leise. Eine Medaille mit dem Team, etwas anderes kann er nicht meinen. Willam träumt auch davon, er sagt es auch. Die letzte deutsche Teammedaille gewann Deutschland bei der WM in Indianapolis – 1991.

Natürlich ist die Chance auf Edelmetall gering, das wissen alle, aber in diesem Moment ging es um Gefühle, um den Drang, überwältigende Euphorie auszudrücken. Die Deutschen hatten keinen Schwachpunkt, sie hatten höchstens kleinere Mängel. Hambüchen zog nicht bloß im Reck ins Einzel-Finale ein, sondern auch beim Pferdsprung. Für seinen Jurtschenko mit zweieinhalb Schrauben gestreckt erhielt er 16,275 Punkte. Boy turnte sicher, obwohl er vor drei Monaten eine Bänderoperation hatte. Der Cottbuser Robert Juckel musste zwar am Boden die Bahn verlassen, aber er stand beim Pferdsprung den Doppelsalto vorwärts, und er überzeugte am Reck. Eugen Spiridonow vom TV Bous spulte seine Übungen sicher ab wie ein Uhrwerk, und der 19-jährige Marcel Nguyen hatte am Barren bei seinem spektakulären Abgang keine Probleme. Den Doppelsalto mit ganzer Schraube zeigt der Münchner derzeit als einziger Turner auf der Welt. Nur der Stuttgarter Thomas Andergassen patzte mal wieder am Seitpferd. Aber diesen Mangel machte er durch eine glänzende Ringe-Vorstellung wett. Die 364,250 Punkte der deutschen Riege wurden am Ende nur noch von den Chinesen (374,275) und den Japanern (370,725) übertroffen.

„So eine tolle Vorbereitung wie auf diese WM hatte ich noch nie“, sagte Andergassen. Hirsch hatte im Trainingslager den Frühsport gestrichen, deshalb gingen die Turner ausgeruhter an die Geräte. Der Heimvorteil, der Teamgeist und eine ungewohnte Siegermentalität, das alles lieferte die Basis für Platz drei.

Hambüchens Spannungsabbau nach seiner Reck-Übung passt zu dieser Siegermentalität. Er passt nur nicht zum Regelwerk des Weltverbands. Dort sind Fan-Animationen nicht erlaubt, die Gegner könnten gestört werden. Hambüchen wusste es nicht bis der technische Delegierte des Weltverbands auf ihn zustürmte. Aber Hambüchen ist ja höflich: Gestern entschuldigte er sich öffentlich.

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