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Läufer im Kopf. Bereits vergangenes Jahr traten Viswanathan Anand (links) und Magnus Carlsen bei der Schach-WM gegeneinander an. In diesem Jahr scheint der Inder besser vorbereitet.

© dpa

Viswanathan Anand: Die indische Verwandlung

Viswanathan Anand geht mit guten Chancen gegen Titelverteidiger Magnus Carlsen in die Schach-WM in Sotschi. Und es gibt Anzeichen, dass ihm bei der Revanche in diesem Jahr der ganz große Coup zuzutrauen ist.

Wenn Viswanathan Anand erwacht, weiß neuerdings nicht nur seine Frau Aruna, ob er gut geschlafen hat. Im Prinzip erfährt die ganze Weltöffentlichkeit vom aktuellen Befinden des ehemaligen Schachweltmeisters: „Es ist Morgen und ich habe einen Läufer in meinem Kopf.“ Diesen Satz hat Anand vor ein paar Tagen aus seinem Hotelzimmer in Sotschi/Russland getwittert; man könnte den Satz als eine indische Variante von Kafkas „Verwandlung“ deuten.

Zwar fand sich Viswanathan Anand nicht über Nacht „zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“, sein Online-Tagebuch offenbart jedoch dreierlei. Erstens macht der Inder glauben, er habe derzeit nur Schach im Kopf. Seit Wochen bereitet sich der 44-Jährige auf den am Samstag beginnenden WM-Kampf gegen Weltmeister Magnus Carlsen vor. Zweitens beweist Viswanathan Anand mit seinen mitteilsamen Tweets, dass er nicht nur am Schachbrett, sondern auch in der digitalisierten Welt wandlungsfähig ist. Und drittens schwingt in seinen Einlassungen Entschlossenheit mit.

Ob diese tatsächlich echt ist oder nur Demonstration, spielt dabei keine Rolle, wenn am Samstag die Schachuhr angestellt wird, ein bisschen mehr Mut wird Anand dieses Mal unbedingt nötig haben. Vor einem Jahr hat ihm Carlsen den WM-Titel mit einem 6,5:3,5-Sieg abgenommen; Anands Spiel wirkte in seiner Heimatstadt Chennai mit zunehmender Matchdauer immer gehemmter.

Die große Dominanz von Weltmeister Magnus Carlsen spiegelt sich auch in der Weltrangliste

Klar, bei dieser Revanche wird er wieder nur Außenseiter sein, die Dominanz des 23 Jahre alten Norwegers ist groß, sie spiegelt sich auch in der Weltrangliste: Magnus Carlsen steht einsam an der Spitze, Anand nur auf Platz sechs. Dennoch gibt es Indizien, dass es diesmal spannend werden könnte. Während Magnus Carlsen bei seinen jüngsten Turnieren schwächelte, wirkt Anand ohne den WM-Titel plötzlich viel frischer, wie von der Last, den Erwartungen seiner 1.2 Milliarden Landsleute gerecht zu werden, befreit. Das glänzend besetzte Kandidatenturnier im Frühjahr gewann er souverän und qualifizierte sich überraschend als Carlsens Herausforderer.

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Viswanathan Anand ist ein Phänomen. Seit einem Vierteljahrhundert mischt er in der Weltspitze mit. Voller Respekt spricht er beispielsweise von zwei inzwischen verstorbenen sowjetischen Größen: „Ich habe noch mit Tal und Polugajewski gespielt.“ Michail Tal, den genialen Zauberer aus Riga und Weltmeister von 1960, besiegte er 1989. Da war Carlsen noch gar nicht geboren.

Viswanathan Anand hat als einziger Schachspieler Weltmeisterschaften in allen Formaten gewonnen

Als einziger Spieler überhaupt hat Viswanathan Anand Weltmeisterschaften in allen Formaten gewonnen, im traditionellen Zweikampf, im K.-o.-Modus, im Turnier. Das erste Mal spielte er 1995 gegen Garry Kasparow um den Titel. Das Duell begann am 11. September 1995 im New Yorker World Trade Center, im 107. Stockwerk des Südturms. Im Jahr 2000 setzte sich Anand bei der K.-o.-WM durch und hielt bis 2002 den Titel des Weltverbands Fide. Seinerzeit gab es aber zwei Verbände, und der inoffizielle WM-Titel von Wladimir Kramnik wurde allgemein als höherwertig angesehen. Alleiniger Weltmeister wurde Anand schließlich im Jahr 2007 bei seinem Sieg im WM-Turnier in Mexiko-Stadt. Später verteidigte er den Titel in drei Duellen: 2008 in Bonn gegen Kramnik, 2010 in Sofia gegen Wesselin Topalow, 2012 in Moskau gegen Boris Gelfand.

Dass die WM trotz des Ukraine-Konflikts in Sotschi stattfindet, hat Viswanathan Anand offenbar nicht gestört. Im Gegensatz zu Magnus Carlsen, der lange mit seiner Unterschrift zögerte, hatte er den Vertrag für Russland früh unterschrieben. Spätestens am 27. November wird das Millionen-Duell entschieden sein; für jeden Tag sind Tiebreak-Partien mit verkürzter Bedenkzeit angesetzt, falls es nach zwölf regulären Partien unentschieden steht. Und wer weiß, vielleicht gelingt Anand dann der alles entscheidenden Zug mit einem Läufer.

Einen Live-Stream zu den Begegnungen finde Sie auf der WM-Seite des internationalen Schachverbandes Fide.

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