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Irgendwo in diesem Bild könnte ein ein großes Fußballtalent versteckt sein.

© dpa

Willmanns Kolumne: Balzen und Bolzen am Bodden

Frank Willmann hat für seine neue Kolumne tief in der Erinnerungskiste gewühlt und erzählt von einem Sommerurlaub 1978, in dem ein talentierter DDR-Jugendfußballer eine wichtige Lektion fürs Leben lernte.

Während meiner Kindheit verbrachte die Familie den Sommer oft in Fuhlendorf. Ein kleiner Ort am unteren Rand des Darß. Für die richtige Ostsee reichte es nie. Meine Eltern gehörten nicht zur Arbeiterklasse, somit fielen Urlaube in Erholungsheimen des FDGB aus. Wir waren in den ausgebauten Hühnerställen listiger Dörfler untergebracht. Durften uns aber in der örtlichen Kneipe jeden Tag unseren Broiler abholen. Der Ort lag am Bodden. Eine braune, handwarme Flüssigkeit, gekrönt von gigantischen Schaumflächen. Gespeist wurde das Gülleparadies von  landwirtschaftlichen Großbetrieben. Heute wirbt die inzwischen gastfreie Gegend mit ihrer Natürlichkeit und Verträumtheit. Erstaunlich. 1978 durchzogen Hunderte von armen Teufeln auf der Suche nach Naherholung die Gegend.

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Manchen Tags verzichteten wir auf unsere Broiler. Und fuhren mit dem Trabant an die Ostsee. FKK-Strand bei Prerow. Sechs Uhr früh aufstehen. Dann in die Schlange der Trabis einreihen. Die Sandburgen standen am Strand in Sechserreihen. Wie überall fand sich irgendwann die Schar der Pubertierenden am Boddenstrand. Eintauchen im kühlen Nass des Boddens kam aber nicht in Frage. Es ging die Legende um, ein Sachse hätte es versucht. Als er aus dem Wasser trat, soll ihm die Haut in Fetzen vom Körper gefallen sein.

Für den stillen Betrachter ergab sich ein anmutiges Bild. Wenige Meter vor der Boddenflüssigkeit ruhten die jungen Mädchen auf ihren Handtüchern. Etwas versetzt davon spielten die Jungs Fußball. Beide Parteien taten so, als interessiere sie das Tun der anderen nicht. Die Sonne schien allen und die Zeit war ein relatives Moment. Unter der Schar junger Mädchenblüten stach besonders Isabella hervor. Ihre langen Haare umrahmten ein engelsgleiches Antlitz. Wenn sie erschien, legten sich Fuchs und Hase friedlich vor ihr nieder. Sie war die unbestrittene Göttin von Fuhlendorf.

Alle Jungs spielten Fußball. Egal ob sie es konnten oder nicht. Das Ziel jedes Einzelnen war, das Herz der Angebeteten zu erreichen. Viele von uns bestritten am Boddenstrand das Spiel ihres Lebens. Der kleine Icke aus Berlin war ganz besonders von Isabella angetan. Er war so ein kleiner, flinker. Geniale Pässe, brandgefährliche Dribblings. Jede seiner vollkommenen Finten widmete er Isabella.

Ickes Problem war seine Größe. Magere 1,59 Meter erhob sich sein Körper vom Boden. Zu wenig, um aufzufallen. Unter den vierzehn-, fünfzehnjährigen Jungs fühlte er sich als Zwerg. Und er wusste aus seinen Büchern, der Zwerg bekommt am Ende der Geschichte niemals die Königstochter zur Frau. Er ist der Possenreißer. Manchmal darf er böser Zwerg sein.

Wie Icke am Ende doch noch gewinnt

Dennis trug Jeans und T-Shirts aus dem Westen. Dennis war Torwart. Zwischen den Pfosten bot er ein glänzendes Bild. Immer wenn er als Torwart nichts zu tun hatte, zog er mit einem blauen Kamm seinen Scheitel nach und lächelte. Er lächelte in Richtung der Mädchen. Er lächelte eine ganze Woche in Richtung der Mädchen und brachte mit seinem Kamm den Scheitel in Ordnung.

Icke sah das Lächeln. Doch Icke hatte auf dem Platz keine Zeit, den Mädchen schöne Augen zu machen. Seine Augen fixierten den Ball. Er war auf dem Platz zu sehr Fußballer und vergaß es immer wieder, seine Gestalt den Mädchen verlockend zu präsentieren. 

Wenn Icke am Abend in seinem Bett lag, musste er oft weinen. Er sah sich auf dem Spielfeld. Icke stand neben Dennis und schaute nach oben. Dennis Zähne blitzten in der Sonne. Icke glaubte jeden Tag an seine Chance. Sein Spiel wurde immer göttlicher. Doch Isabella interessierte sich nicht für Fußball.

Es war am Boddenstrand genauso wie im richtigen Leben. Isabella entschied sich nach einer Woche für den blonden, großgewachsenen Dennis. Fortan lief Dennis nach dem Spiel zu ihr. Er küsste sie auf den Mund. Sie gingen zusammen.

Neben Isabella und Dennis hatten sich weitere Paare gebildet. Unschuldige Küsse hinter dem Hühnerstall. Die Mädchen hatten einen Typ. Die Jungs eine Kirsche. Icke hatte keine Kirsche abbekommen. Icke hatte am Tag Fußball gespielt. Nachts konnte er nicht einschlafen.

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Am Tag vor der Abreise spielten wir letztmalig Fußball. Die Mädchen saßen wie immer etwas abseits. Icke nahm sich den Ball und rannte damit auf Dennis zu. Sein Gesicht war Fratze. Icke zielte, holte aus und zirkelte den Ball mit enormer Wucht in Dennis Schoß. Dennis wehklagte. Dennis fiel. Schon bei Dennis erstem Schrei erhob sich Isabella und lief zu ihrem verletzten Geliebten. Dennis lag betäubt auf der Bolzwiese. Isabella entrüstet. Icke lachte. Er lachte laut. Nicht aus Häme, aus Beklommenheit. Isabella schaute Icke an. Sie sagte nur ein Wort. Sie sagte es voller Verachtung. Zwerg. Dann nahm sie Dennis in den Arm, der ihre zärtlichen Fürsorge genoss und schnell genas. Und schon bald wieder lächelte. Icke stand allein. Icke dachte an Dennis blauen Kamm. Icke rannte schreiend zum Bodden und warf sich hinein.

Wir beendeten das Spiel. Die Pärchen setzten sich zueinander. Nach einer Weile kam Icke aus dem Wasser. Seine Haut war noch dran. Kurz bevor er verschwand, drehte er sich um und schrie: Kicken ist mein Ficken.

Ich habe Icke fünf Jahre später im Fernsehen gesehen. Er spielte für eine bekannte DDR-Mannschaft im Europapokal im Westen. Nach dem Spiel blieb er dort. Icke hatte dazugelernt.

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