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Bauboom in Sotschi. Doch viele Arbeiter auf den Baustellen werden ausgebeutet.

© Reuters

Winterspiele in Sotschi: Olympias Sklaven machen es möglich

Als der Arbeiter Mardiros Demertschan auf einer Baustelle in Sotschi anheuert, hofft er auf gutes Geld. Er glaubt an die Winterspiele – und an das Versprechen seines Chefs. Doch kurz vor der Eröffnung ist ihm außer Schmerzen nichts geblieben. Eine Reportage

Irgendwann sagt Mardiros Demertschan gar nichts mehr. Während seine Frau und seine Schwiegermutter seine Geschichte erzählen, schimpfen, sich in Rage reden, immer lauter werden, sitzt Demertschan nur schweigend da und raucht. Die Hände auf der Lehne gefaltet. Ab und zu lässt er das Kinn auf seine Finger sinken. Und wenn er die Zigarette an seine Lippen führt, kann man die Lücken sehen, Polizisten haben ihm die Zähne ausgeschlagen.

Mardiros Demertschan schweigt, während seine Frau und seine Schwiegermutter ihren Zorn in Worte fassen.

Vor mehr als einer Stunde hat der 38-Jährige einen Stuhl an den Küchentisch geschoben, sich rittlings daraufgesetzt und angefangen zu berichten. Von Hoffnung. Von Gier, Gewalt und Ungerechtigkeit. Von Olympia.

Demertschans Geschichte beginnt im Juli 2007, als Sotschi den Zuschlag für die Olympischen Winterspiele 2014 erhält. Der russische Kurort am Schwarzen Meer verfügt damals über keine einzige Wettkampfstätte, viel zu wenige Hotels, keine taugliche Infrastruktur. Es ist der Beginn eines beispiellosen Baubooms, der auch jetzt noch anhält, wenige Wochen vor dem Beginn der Spiele. Der die Stadt umkrempelt. Überall entstehen Hochhäuser, Straßen, Sportarenen. Die Kosten sind auf mehr als 40 Milliarden Euro gestiegen. Die Winterspiele bringen viel Geld nach Sotschi. Nie war Olympia teurer, und es wird einige Menschen sehr, sehr reich machen. Meist jene, die bereits reich sind.

Der Traum vom Wohlstand

Auf 900 Metern Höhe hat der kremltreue Oligarch Wladimir Potanin den Ort Rosa Khutor in den Kaukasus stemmen lassen, hier werden Skirennläufer und Snowboarder um Medaillen kämpfen. Potanin wird nach den Spielen an jedem Skipass, jeder Bratwurst und jedem Bier verdienen – ganz Rosa Khutor ist Privatbesitz, auch wenn der Ort den Eindruck eines Bergdörfchens in den Alpen erwecken soll. Eine gerade erst fertiggestellte Zugstrecke führt hinauf zu den neuen Pisten.

Mardiros und Ludmilla Demertschan mit einem ihrer vier Kinder.
Mardiros und Ludmilla Demertschan mit einem ihrer vier Kinder.

© Lars Spannagel

Nach den Olympischen Spielen sollen russische Touristen nach Sotschi strömen, morgens Ski fahren und nachmittags am Strand liegen. Unten am Schwarzen Meer, im olympischen Dorf der Winterspiele, werden Swimmingpools gebaut. Aber nicht für die Sportler, hier sollen Urlauber aus Moskau baden, wenn die Athletenunterkünfte erst einmal in Ferienwohnungen umgewandelt sind. Der Traum von Winterspielen unter Palmen ist auch der Traum von zwölf Monaten Tourismus im Jahr, vom Geldverdienen zu jeder Jahreszeit. Auch Mardiros Demertschan hoffte, dass dieser Traum ihm zu ein bisschen Wohlstand verhelfen werde.

Im vergangenen Frühling erzählt ein Nachbar Mardiros Demertschan, dass auf einer der unzähligen Baustellen Arbeiter gesucht werden. Ganz Sotschi ist eine Baustelle. Überall staubt und lärmt es. Vom Strand des Schwarzen Meers sind es nur ein paar Schritte zum neuen Stadion, wo am 7. Februar die Winterspiele feierlich eröffnet werden. Von der Baustelle dringt das Rattern von Dieselgeneratoren und das Kreischen von Sägen herüber. Die zweistöckigen Container-Unterkünfte gleich daneben, wo schmutzige Arbeitshosen und T-Shirts über dem Stacheldrahtzaun zum Trocknen aufgehängt sind, werden im Februar genauso verschwunden sein wie die streunenden Hunde, die in den tiefen Furchen dösen, die Lastwagen im Schlamm hinterlassen haben.

Demertschan hört, dass in einer Unterkunft für freiwillige Olympia-Helfer und auswärtige Polizisten und Sicherheitskräfte Stromkabel verlegt werden sollen. Als Lohn werden von einem Vermittler 1500 Rubel am Tag versprochen, rund 33 Euro, außergewöhnlich gutes Geld für einen ungelernten Bauarbeiter wie Demertschan. Nach einem Monat soll es den ersten Lohn geben. Doch ein Angestellter der Baufirma teilt den Arbeitern mit, das erste Gehalt werde als Kaution einbehalten, den gesamten Lohn werde es erst später geben. „Ich habe gesagt: Das geht nicht, wir haben Familien, wir brauchen das Geld“, erinnert sich Demertschan, Vater von vier Kindern. Der Chef bleibt hart, immerhin werden regelmäßig kleinere Summen ausgezahlt. „Wir haben gedacht: Okay, das scheint zu laufen. Wir werden am Ende unser Geld bekommen“, sagt Demertschan.

Er ist bei weitem nicht der einzige Bauarbeiter, der Versprechungen glaubt, der an Olympia glaubt. Rund 50 000 Gastarbeiter haben in den vergangenen Jahren auf den Baustellen von Sotschi geschuftet. Seite an Seite mit Demertschan arbeiten Usbeken und Tadschiken, Türken und Russen. Demertschan selbst stammt aus der abtrünnigen georgischen Teilrepublik Abchasien, lebt aber seit seiner Kindheit in Sotschi. Einen Vertrag hat keiner der Arbeiter.

Russische Menschenrechtsorganisation spricht von Sklavenarbeit

Die Vorbereitungen für riesige Sportveranstaltungen scheinen ohne ein Heer von billigen Arbeitskräften kaum noch zu bewältigen. In Katar sind es zumeist Nepalesen, die die Stadien für die Fußball-WM 2022 errichten, unter unwürdigen und teilweise lebensgefährlichen Bedingungen. Auch in Sotschi werden viele Arbeiter schlecht bezahlt, arbeiten in Zwölf-Stunden-Schichten mit nur einem freien Tag pro Monat, müssen in überfüllten Unterkünften schlafen. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial spricht sogar von „Sklavenarbeit“. Im Oktober nähte sich ein Bauarbeiter den Mund zu, um auf Ausbeutung aufmerksam zu machen.

Einige hohe internationale Politiker haben in den vergangenen Wochen erklärt, die Spiele nicht besuchen zu wollen. Die EU-Kommissarin Viviane Reding ist darunter, Frankreichs Präsident François Hollande und der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, der diese Entscheidung als Erster traf, wenn auch ohne konkrete Begründung.

Human Rights Watch hat viele Fälle dokumentiert, in denen Arbeiter unrechtmäßig entlassen, um ihr Geld betrogen oder abgeschoben wurden. Auch der Fall Mardiros Demertschan ist Human Rights Watch in allen Einzelheiten bekannt, die Experten der Menschenrechtsorganisation halten seine Geschichte für glaubwürdig – auch wenn offizielle Stellen sie anders erzählen.

„Sie haben Boxhandschuhe angezogen. Da habe ich verstanden, dass sie mich schlagen würden“

Nach knapp zwei Monaten auf der Baustelle werden Demertschan und seine Kollegen wieder zum Chef gerufen. Der teilt ihnen mit: Ihr arbeitet zu wenig und zu langsam, ihr seid gefeuert. Eigentlich stehen Demertschan noch 30 000 Rubel zu, der Chef will nur 15 000 zahlen. Der Arbeitsvermittler verspricht, er werde 3000 Rubel drauflegen. Ein paar Tage später meldet sich der Vermittler und teilt Demertschan und einem Kollegen mit, dass Kabel aus dem Lager der Baustelle gestohlen worden seien. Und dass die beiden Arbeiter die Hauptverdächtigen sind. Die zwei weisen den Vorwurf von sich. Kurz darauf werden sie auf die Baustelle bestellt, wieder wird ihnen Diebstahl vorgeworfen, wieder streiten sie die Tat ab. Dann werden sie in Handschellen gelegt und zur Polizeistation des Stadtteils Blinovo gefahren.

Wenn Mardiros Demertschan davon berichtet, was ihm in der Polizeistation widerfahren ist, spricht er schleppend. Er blickt ins Leere oder auf die Blümchen-Tischdecke aus Plastik auf dem Küchentisch. Sein Gegenüber schaut er nicht an. Sein jüngstes Kind klettert auf die Bank neben ihm, tunkt einen Keks in den Tee, die Hände mit grünem Filzstift bekrickelt. Demertschan nimmt das eineinhalbjährige Mädchen kaum wahr. Vielleicht war der hagere Mann früher ein fröhlicher Mensch, vielleicht hat er mit seinen Kindern gelacht und getobt. Wer auch immer Mardiros Demertschan war, ein Teil von ihm hat die Stunden in der Polizeistadion nicht überlebt.

„Mein Kollege und ich wurden in getrennte Zimmer gebracht, mich haben zwei Polizisten auf einen Stuhl gesetzt“, sagt er ohne jede Emotion. „Sie haben Boxhandschuhe angezogen, der eine den rechten Handschuh, der andere den linken. Da habe ich verstanden, dass sie mich schlagen würden.“

Er soll den Diebstahl gestehen, er weigert sich, sie schlagen ihn, er wird ohnmächtig. Sie wecken ihn auf, mit einem Eimer Wasser. Er soll gestehen, er weigert sich, sie schlagen ihn, diesmal ohne Boxhandschuhe, er wird ohnmächtig. Sie wecken ihn auf, er soll gestehen, er weigert sich, einer sagt: Holt das Brecheisen. Holt ein Kondom. Sie beugen ihn mit Gewalt vornüber. „Ich hab geschrien“, sagt Demertschan. „So laut, dass es auch die Leute auf der Straße gehört haben müssen. Dann bin ich wieder ohnmächtig geworden.“ Er kann sich nicht erinnern, wie lange die Schläge und die Folter dauern. Zwei Stunden? Drei Stunden? Dann kommt ein Polizist mit einem Blatt Papier.

Der Polizist schreibt für ihn - sein Geständnis

Demertschan kann nicht gut schreiben, nicht gut lesen. Also schreibt der Polizist für ihn vier, fünf Seiten Text, ein Geständnis. Er habe sich im Lager der Baustelle heimlich mit Kabeln umwickelt, das Material unter der Kleidung herausgeschmuggelt und verkauft. Demertschan unterschreibt. Die Polizisten sagen ihm, er müsse ins Gefängnis. Nur der Arbeitsvermittler könne die Anzeige fallen lassen und ihn noch retten. „Wenn du unterzeichnest, dass du auf das Geld verzichtest, dann darfst du nach Hause. Wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest, werden wir dich erschießen und in einen Sumpf werfen. Dich braucht hier keiner, dich wird keiner finden.“ Demertschan unterschreibt.

In der Nacht gelingt es ihm, seine Familie anzurufen. Sechs Frauen und zwei Kinder fahren zur Polizeistation. Als seine Mutter ihn sieht, Blutflecken auf dem Hemd, die Zähne ausgeschlagen, fällt sie in Ohnmacht. Die Frauen verbringen die ganze Nacht vor der Zelle. Sie beschimpfen die Polizisten, stellen Fragen, bekommen statt Antworten nur Drohungen. Am nächsten Morgen wird Demertschan ins Krankenhaus gebracht, die ganze Fahrt über muss er sich erbrechen.

Mardiros Demertschan ist kein Einzelfall

Sein Rechtsanwalt informiert das regierungskritische Internetportal „Kawkaski Usel“, die Reporterin Swetlana Krawtschenko führt in der Klinik ein Videointerview mit Mardiros Demertschan. Ihr Film zeigt ihn mit nacktem Oberkörper auf einem Krankenhausbett, sein Sohn krabbelt auf ihm herum, Demertschan scheint die Augen kaum offenhalten zu können. Dann kommt ein Klinikangestellter ins Zimmer und beendet die Aufnahme, indem er versucht, Krawtschenko die Kamera zu entreißen. Die Reporterin berichtet, es gebe regelmäßig Fälle wie den von Mardiros Demertschan: „Solche Polizisten sind eine Schande für das Land. Sie machen das Bild von Russland schwarz.“

Bis heute hat Mardiros Demertschan Schmerzen. Sein Kopf schmerzt, der Rücken schmerzt, trotz vieler Tabletten kann er kaum laufen, nichts heben. „Ich werde schon müde vom Nichtstun“, sagt er. Er kann nicht arbeiten, kein Geld verdienen, keine Miete zahlen. Ihr Haus kann sich die Familie bald nicht mehr leisten, sie wohnt jetzt bei Demertschans Schwiegermutter. Fünf Familien mit acht Kindern unter einem Dach, ein Hund, eine Katze, sie alle in fünf Zimmern, eine Treppe aus nacktem Beton, in der Küche ein ständiges Kommen und Gehen.

Demertschans Frau Ludmilla holt einen Aktenordner, ein Dokument nach dem anderen landet auf dem Küchentisch: Die Anzeige gegen die Polizisten, die wenige Tage, nachdem sie bei Gericht eingegangen war, spurlos verschwand. Mehrere Beschwerden des Rechtsanwalts gegen die Untätigkeit des zuständigen Ermittlers. Die Entscheidung eines Gerichts, die Beschwerde abzulehnen. Die Anzeige der Polizisten gegen Demertschan wegen Verleumdung. Das Ergebnis einer offiziellen Untersuchung, die die Polizisten von jeder illegalen Handlung freispricht. Die Aussagen der Krankenhausärzte, die keine nennenswerten Verletzungen erwähnen. Das medizinische Gutachten einer Praxis, zu der Ludmilla Demertschan ihren Mann aus dem Krankenhaus geschmuggelt hat, die unter anderem eine schwere Gehirnerschütterung, eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse sowie eine „Verletzung des Rektums und anale Fissuren“ feststellt.

„Es ist deine Olympiade!“

Noch im Krankenhaus schickt Demertschan seine Frau zu dem Arbeitsvermittler, damit sie ihm sagt, er werde auf das Geld verzichten. Sie kennt den Vermittler, gemeinsam sind sie in Sotschi zur Schule gegangen. „Ach, das ist dein Mann?“, fragt er, „das habe ich nicht gewusst.“ Sie ist außer sich: „Das ist doch egal, auch einem Fremden darfst du so etwas nicht antun.“ Die Familie vermutet, dass Demertschan auf der Baustelle für einen Gastarbeiter gehalten wurde. Und dass der Vermittler die Polizisten angestiftet hat und später den nicht ausgezahlten Lohn mit ihnen teilen wollte.

„Wir werden vors höchste Gericht gehen, es geht auch um unsere Ehre, wir sind keine Diebe“, sagt Ludmilla Demertschan erregt. Die rundliche Frau wird immer lauter. „Diese Männer müssen bestraft werden, sie haben meinen Mann zu einem Behinderten gemacht.“

Demertschans Anwalt hat angekündigt, notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ziehen zu wollen. Zurzeit klagt er vor dem Regionalgericht Krasnodar, macht sich aber nur wenig Hoffnung, dass es vor oder während der Olympischen Spiele tatsächlich zu einer Verhandlung kommt. Die russische Regierung hat Sotschi 2014 zur nationalen Aufgabe erklärt, Misstöne sind unerwünscht. Wenn die Spiele beginnen, soll Sotschi ein strahlendes Bild vermitteln.

Auch der Rathausplatz von Sotschi wird dann vorzeigbar sein, gleich mehrmals wurde er umgepflügt und neu gepflastert, weil man Leitungen vergessen hatte. Neben dem Rathaus, an einem Gebäude der Universität, hängt ein riesiges Plakat, weiße Buchstaben auf rotem Grund verkünden: „Es ist deine Olympiade!“ Auch Mardiros Demertschan hat einmal geglaubt, die Olympischen Spiele könnten ihm und seiner Familie Gutes bringen. „Jetzt nehme ich die Plakate überhaupt nicht mehr wahr“, sagt er. „Ich habe eigene Probleme.“

Erschienen auf der Dritten Seite.

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