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Das waren noch Zeiten. Die Winterspiele 1994 in Lillehammer waren gemütlich, überschaubar – und beliebt. Heute wäre der norwegische Ort wohl viel zu klein für Olympia.

©  Imago

Wintersport: Olympische Spiele - ein Auslaufmodell?

Kaum jemand möchte noch Olympische Winterspiele. Das liegt auch an einem harten Gegner aus der Schweiz.

Es gab einmal eine Zeit, in der Schnee noch mit wahren sportlichen Heldentaten verknüpft war. Die etwas Älteren werden sich noch erinnern an die großen Momente des olympischen Wintersports: An den tollkühnen Abfahrer Franz Klammer 1976 in Innsbruck. Zehntausende standen an den Hängen und jubelten ihrem Landsmann zu. Oder an den Italiener Alberto Tomba, „la bomba“ genannt, wie er 1988 nahe Calgary in den Rocky Mountains mit einer Eleganz den Berg hinunter wedelte, die den Zuschauern den Atem raubte. Und natürlich erinnern sich viele noch an die schönen Bilder aus Lillehammer. Vielleicht der größte Hit der Veranstaltung unter dem Zeichen der fünf Ringe überhaupt.

Die Spiele in der kleinen norwegischen Stadt waren atmosphärisch, ja begeisternd. Das war im Jahr 1994, und Lillehammer steht heute noch für das Idealbild der Olympischen Winterspiele. Doch in den vergangenen 24 Jahren hat sich viel getan. Lillehammer wäre heute schlicht nicht mehr das passende Gefäß für dieses sehr groß gewordene sportliche Ereignis. Überhaupt tut sich der Ausrichter, das Internationale Olympische Komitee (IOC), schwer damit, passende Gefäße für sein Produkt zu finden.

Derzeit ist das IOC auf der Suche nach einem Austragungsort für die Winterspiele 2026. Die möglichen Kandidaten kippten um wie Dominosteine. Erst lehnten vor mehr als einem Jahr die Bürger Tirols eine Kandidatur mehrheitlich ab, später passierte das Gleiche in der Schweiz, erst in Graubünden, dann im Kanton Wallis; im Juli zog das Österreichische Olympische Komitee das Kandidaturvorhaben von Graz/Schladming zurück. Und erst vor wenigen Wochen entschieden sich die Bürger von Calgary gegen eine Neuauflage der Spiele in ihrer Stadt. Es blieben für das IOC somit nur noch zwei Bewerber übrig, Stockholm und Mailand mit Cortina d’Ampezzo. Am vergangenen Freitag endete schließlich die Frist für die Kandidaten, um ihre Unterlagen beim IOC einzureichen. Zwei Bewerber für das vermeintliche Riesenevent Olympische Winterspiele – das ist ein Armutszeugnis für das IOC. „Kein Wunder“, sagt Stefan Grass, „wer das Volk oder die Parlamente nach Olympischen Spielen fragt, der kriegt mehrheitlich eine Antwort: Nein!“

Stefan Grass kämpfte in den vergangenen 20 Jahren erfolgreich gegen Olympia-Bewerbungen.
Stefan Grass kämpfte in den vergangenen 20 Jahren erfolgreich gegen Olympia-Bewerbungen.

© Promo

Grass muss es wissen. Der 64-Jährige ist einer der härtesten Gegner des IOC. Grass liebt seine Heimat in den Alpen, vor allem wegen der teilweise noch intakten Landschaft. Das ist seine Triebfeder, die ihn zu einem erbitterten Widersacher der Olympischen Spiele gemacht hat – und das schon seit fast 20 Jahren. Als Kampagnenleiter bekämpfte er erfolgreich die Kandidaturen für die Winterspiele in Graubünden für 2010, 2014, 2022 und 2026. Auch im Wallis vertrauten die Olympiagegner seiner Überzeugungskraft. Wie in Graubünden folgte dort eine Volksmehrheit seinen Argumenten und schmetterte eine Kandidatur ab.

Dabei war es jedes Mal ein Kampf David gegen Goliath. Mit knapp 100.000 Euro mussten die Kampagnen der Olympiagegner im Vergleich zum millionenschweren Budget der Befürworter finanziert werden. Das Missverhältnis spielte aber nie eine Rolle. Weil vielleicht ja stimmt, was Grass sagt: dass die Olympischen Winterspiele „ein Auslaufmodell sind“.

Oft fehlt die Wintersportkultur wie 2018 in Pyeongchang

Als Beleg für diese These könnte man die Spiele im Februar 2018 in einer Region rund um die südkoreanische Stadt Pyeongchang anführen. Ein Fleckchen Erde mit ein paar Bergen, aber ohne eine Wintersportkultur, wie sie die Olympischen Spiele im Grunde erfordern. Einmal etwa fragten während der Spiele ARD-Reporter den Wintersport-Sachverstand der Einheimischen ab. Eine junge Frau sollte pantomimisch mit einer Figur die Sportart Biathlon beschreiben. Sie beugte sich nach vorne, breitete die Arme aus und machte eine Standwaage wie im Eiskunstlauf. Dieser kleine Einspieler stand sinnbildlich für das große Manko der Spiele in Südkorea: Die Menschen dort interessierten sich bis auf wenige Ausnahmen nicht für die vielen Wettbewerbe. Traurig waren daher die Bilder von den Siegern vor manchmal fast leeren Rängen. Olympia passte nicht an diesen Ort. Aber wenn man Grass fragt, passen Olympische Winterspiele nirgendwo mehr hin. „Die Welt ist einfach nicht für eine Wintersportveranstaltung mit 100 Disziplinen in 20 Sportarten gemacht“, sagt Grass, „schon gleich gar nicht Peking, wo die nächsten Winterspiele stattfinden“.

Grass tritt so überzeugend auf, weil er eine natürliche Abneigung gegen den Gigantismus der Olympischen Spiele hat. „Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie und hatte eine naturverbundene Kindheit und Jugend“, erzählt er. „Deshalb bin ich bis heute Naturschützer geblieben.“ Und deshalb kann er nichts anfangen mit der „umweltzerstörenden Geldmaschine IOC“, wie er es nennt. Überhaupt war der Hinweis auf das Geld sein stärkstes Argument, um eine Kandidatur nach der anderen zu begraben. „Das IOC spricht immer nur von Durchführungskosten“, sagt er. „Aber die vielen anderen Kosten wie etwa jene für die Sicherheit bleiben unerwähnt.“ Wenn er daran denke, dass die Bevölkerung für drei Tage Weltwirtschaftsforum Davos zehn Millionen Franken für Sicherheit mit Luftraumüberwachung zahle, könne man sich ja vorstellen, wie teuer Olympische Spiele mit ihren dezentralen Sportstätten seien.

Man kann es aber nur erahnen, weil die Zahlen der vergangenen Winterspiele so unvorstellbar groß waren. Die Winterspiele 2010 in Vancouver etwa kosteten inklusive 700 Millionen Euro Sicherheitskosten insgesamt etwa sechs Milliarden Euro. Das Defizit betrug 713 Millionen Euro, welche die kanadische Metropole über Jahrzehnte zurückbezahlen muss. „17 Jahre Schuldendienst für 17 Feier-Tage“, sagt Grass. „Das ist es natürlich nicht wert.“ Die Spiele 2014 in Sotschi will Grass gar nicht erst erwähnen, „weil sie für die europäische Welt nicht übertragbar sind“.

Sotschi 2014 kostete Russland 33 Milliarden Euro

Was Grass meint, sind die besonderen politischen Rahmenbedingungen in Ländern wie eben Russland. Die Menschen dort wurden nicht gefragt, ob sie die Spiele haben wollten. Präsident Wladimir Putin wollte sie haben und das genügte, um insgesamt 33 Milliarden Euro für Sotschi 2014 bereitzustellen. Die Winterspiele waren ein Milliardengrab und sie sind es heute noch. Die großen Skisprunganlagen oder auch die Bobbahnen liegen weitgehend brach. Experten rechnen mit rund 350 Millionen Euro allein an jährlichen Unterhaltungskosten. Mit Sotschi war für Grass und seine vielen Gefolgsfrauen und -männer der letzte Beweis erbracht, dass aus einem friedvollen Sportfest ein gefräßiges Monster erwachsen ist, von dem wenige Akteure auf Kosten der Allgemeinheit profitieren.

Das IOC ist sich seines Imageproblems dabei bewusst. Vor vier Jahren stellte IOC-Präsident Thomas Bach die Agenda 2020 vor, ein Reformpaket, das all die Kritiker besänftigen sollte. Die Kosten für die Bewerber sollten reduziert, das jeweilige Konzept auf Nachhaltigkeit getrimmt werden. „Dass Olympische Spiele durch die Agenda nachhaltig und kleiner werden, ist grober Unsinn“, sagt Grass. „Die Knebelverträge, die das IOC mit den Ausrichterstädten macht, sind im Kern immer noch die gleichen. Den Gewinn macht das IOC, das Risiko trägt der Ausrichter.“

Grass hat exakt das schon in den vergangenen 20 Jahren immer und immer wieder gesagt, und er wird es vermutlich auch noch in den nächsten 20 Jahren sagen. Vorausgesetzt, es gibt dann überhaupt noch die Olympischen Winterspiele. Daran zweifelt er jedoch nicht: „So lange es Diktatoren gibt, die sich damit inszenieren wollen, so lange wird es auch Olympische Spiele geben.“ Und Diktatoren gibt es mehr als genug.

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