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Die alte Kirche von Sant Romà de Sau in Katalonien ist eigentlich von einem Stausee überflutet. Am 1. Februar 2024 riefen die örtlichen Behörden den Notstand aus, nachdem die Wasserreservoirs der Region unter 16 Prozent der Gesamtkapazität gefallen waren.

© picture alliance / Sipa USA

Statistiken für die Meteorologie : Wie ist das Wetter in 10 Jahren?

Im Forschungsprojekt „Dekadische Klimaaussichten für Europa“ arbeitet Henning Rust an Vorhersagen, die relevant für die Wirtschaft sind.

Von Pepe Egger

Henning Rust ist Physiker und Meteorologe, aber seine Prognosen betreffen nicht die nächsten paar Tage wie im Wetterbericht der Tagesschau. Rust erstellt auch keine Langzeit-Klimamodelle, etwa darüber, wie stark die Erdatmosphäre sich bis zum Jahr 2050 oder 2100 erhitzen wird. Er arbeitet stattdessen an Vorhersagen, wie das Klima in zehn Jahren aussehen wird.

Sein Spezialgebiet innerhalb der Meteorologie: Statistik. „Das kommende Jahrzehnt – Dekadische Klimaaussichten für Europa“ heißt ein Verbund-Projekt, an dem Henning Rust beteiligt ist. Geleitet wird es von Professorin Johanna Baehr vom Institut für Meereskunde der Universität Hamburg; die Finanzierung kommt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, neben der Freien Universität beteiligt sind das Max-Planck-Institut für Meteorologie Hamburg, die Universität Bonn, das Karlsruher Institut für Technologie, das Deutsche Klimarechenzentrum und der Deutsche Wetterdienst.

Aber wie erstellt man eine solche „dekadische“ Prognose? Warum tut man das und für wen? Um zu verstehen, wie eine Klimavorhersage für das nächste Jahr-zehnt funktioniert, hilft es, sich zu verdeutlichen, wie eine „normale“ Wetterprognose funktioniert: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, erklärt Henning Rust, sei die Meteorologie eine Naturwissenschaft, die das Geschehen in der Atmosphäre mithilfe physikalischer Gleichungen zu erklären versuche. „Praktisch angewendet und regelmäßig genutzt werden konnte dies allerdings erst seit den 1960er Jahren, weil nur durch die Entwicklung von Computern numerische Wetterprognosen in großem Stil möglich geworden sind.“ Eine solche Prognose geht vom Ist-Zustand aus, von den gerade existierenden Hochs und Tiefs und ihrer Verortung, und sie simuliert auf dieser Grundlage die Prozesse in der Atmosphäre für die Zukunft.

Richtig gut funktioniert diese Methode aber nur für die kommenden Tage: Je weiter die Vorhersage in der Zukunft liegt, desto ungenauer werden die Prognosen. Weil das Wettermodell die Wirklichkeit nicht in ihrer vollen Komplexität abbilden kann, sondern sie immer vereinfacht, ist es zwangsläufig unsicher. Dieses Problem löst die Meteorologie, indem sie sich – und dies ist Henning Rusts Spezialgebiet – statistischer Methoden bedient und Wahrscheinlichkeiten vorhersagt. So kommt beispielsweise die „35-prozentige Regenwahrscheinlichkeit am nächsten Freitag“ zustande, wie sie in den Wetter-Apps auf Smartphones prognostiziert wird.

Für eine Projektion des Klimas in 50 oder 100 Jahren ist es jedoch nachrangig, wo zum Beispiel Tief Jitka oder Hoch Dario gerade stehen. Eine solche Vorhersage basiert zum einen auf der Kenntnis des Zustands des Ozeans und seiner Entwicklung und zum anderen auf der Zusammensetzung der Atmosphäre – insbesondere der Änderung der Treibhausgaskonzentration und deren wahrscheinlicher Entwicklung.

Die dekadischen Klimavorhersagen, an denen Henning Rust arbeitet, positionieren sich genau zwischen diesen beiden Extremen: kurzfristige Wettervorhersage und langfristige Klimaprojektionen. Für Blicke, die Jahrzehnte in die Zukunft reichen, sei vor allem das Geschehen in den Ozeanen ausschlaggebend, sagt Henning Rust – also weder

Hochs und Tiefs noch die genaue Kohlendioxid-Konzentration, sondern die Temperatur der Ozeane, die Transatlantische Umwälzzirkulation, das El-Niño-Phänomen der veränderten Meeresströmungen. Prozesse, die viel langsamer als die Vorgänge in der Atmosphäre ablaufen. Deshalb könne man dekadische Vorhersagen auch als Vorhersagen des „Wetters im Ozean“ bezeichnen, so Rust. Das Ziel dabei sei nicht, das lokale Wettergeschehen für jede Stunde oder jeden Tag vorherzusagen. Stattdessen beziehen sich die Vorhersagen auf große Gebiete wie ganz Deutschland und auf jährliche oder sogar mehrjährige Mittelwerte. Ähnlich wie die Kurzzeit-Wettervorhersagen werden die dekadischen Vorhersagen in Wahrscheinlichkeiten formuliert.

Statistik optimiert Vorhersagen

Aber wie gehen Forschende vor, ganz handwerklich, wenn sie eine derartige Prognose erstellen? Henning Rust sagt, als Grundlage diene ein „gekoppeltes Atmosphären-Ozean-Modell“, in diesem Fall eine Weiterentwicklung des vom Deutschen Wetterdienst benutzten globalen Modells ICON. Zuerst müssten dann die Startbedingungen im Ozean und in der Atmosphäre definiert werden, also die Bedingungen und damit Grundlagen des Modells. Sie sollten möglichst nahe an dem beobachteten Zustand liegen. Dann wird das Modell verfeinert und erprobt, indem versucht werde, aufgrund von Daten der Vergangenheit Vorhersagen zu treffen: also sogenannte Hindcasts zu erstellen.

Naturgemäß gibt es bei den Hindcasts Diskrepanzen zwischen den Ergebnissen des Modells und den tatsächlich gemessenen Werten: Damit beschäftigt sich im engeren Sinn Henning Rust in seinem Teilprojekt des Forschungsvorhabens „Das kommende Jahrzehnt“. Mithilfe statistischer Methoden kann er systematische Abweichungen des Modells von der Wirklichkeit beschreiben und damit korrigieren, wodurch sich die Qualität der Vorhersagen noch einmal deutlich verbessert. So wird ein Modell entworfen, das ausgehend von den derzeitigen Bedingungen in den Ozeanen das Klima in zehn Jahren voraussagt.

Doch was ist mit den extremen Temperaturwerten, die vor allem im Nordatlantik im vergangenen Jahr gemessen wurden? Das globale Mittel der Oberflächentemperatur der Meere – ausgenommen die Polarmeere – war im Juli 2023 ein halbes Grad Celsius höher als der Durchschnitt über die Jahre 1991 bis 2020. Deuten derart drastische Abweichungen von Langzeit-Durchschnittswerten womöglich darauf hin, dass hier fundamentale Gleichgewichte gestört wurden?

Wirtschaft benötigt Prognosen

Henning Rust will darüber nicht spekulieren: Im Gegenteil, seine Arbeit als Meteorologe beginne eigentlich genau damit, Erklärungen für solche Entwicklungen zu finden. Neben der Erwärmung durch eine höhere Treibhausgaskonzentration nennt er gleich mehrere mögliche Faktoren, deren Einfluss aber noch nicht als quantifiziert angesehen werden sollten: etwa ein rückkehrendes El-Niño-Phänomen, also die periodisch auftretende deutliche Erwärmung des Pazifiks vor der Westküste Mittelamerikas. Als zweiten Faktor nennt Rust den Ausbruch eines Unterwasservulkans im Pazifik, was nach aktuellem Stand einen geringen oder sogar kühlenden Effekt hat.

Eine andere mögliche Erklärung: die Verringerung der Menge an Aerosolen. Das sei eine Nebenwirkung neuerer Vorschriften für bessere Luftqualität und für sauberere Schiffstreibstoffe: Weil es infolge der Vorschriften weniger Aerosole gebe, falle auch deren kühlende Wirkung aus – die Meere könnten sich so stärker erwärmen, weil mehr Sonneneinstrahlung auf ihre Oberfläche trifft.

Doch wer sind die Adressaten und Abnehmer der dekadischen Klimaprognosen? Henning Rust sagt, diese seien auch wichtig, weil ihre Zulieferungen und Anforderungen in das Forschungsvorhaben einbezogen werden. Dank der Expertise vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung werden mit sozialwissenschaftlichen Methoden im Rahmen eines Ko-Design-Ansatzes Vorhersageprodukte zusammen mit den Adressaten entwickelt und getestet.

Dazu gehören Personenkreise und Institutionen, die Langzeitpläne aufstellen und dafür wissen wollen, auf welche klimatischen Rahmenbedingungen sie sich in der nahen Zukunft einstellen müssen: Klimaanlagenhersteller, Unternehmen aus der Bauwirtschaft, dem Energiesektor, der Landwirtschaft, öffentliche Behörden. Sie benötigen Eckdaten darüber, mit welchen Temperaturen und Niederschlagswerten in den kommenden zehn Jahren zu rechnen ist, oder wie viele Frost- oder Hitzetage es voraussichtlich geben wird. Diese können auf den Forschungsehrgeiz von Henning Rust und dem gesamten Team von „Das kommende Jahrzehnt“ setzen.

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