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Brandenburg: Einsam und verlassen

Platzeck nennt Bevölkerungsrückgang am Rand Brandenburgs die „größte Herausforderung“. Jetzt entwickeln die Ministerien Gegenstrategien

Brandenburg im Jahr 2020 wird wohl so aussehen: Die alten Menschen sind unter sich. Es gibt viele leer stehende Häuser, manche erst in den 90er Jahren saniert. Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten verfallen. Für die alten Menschen kommt der Fahrdienst, um sie mit Lebensmitteln zu versorgen. Die wenigen Kinder müssen sehr früh aufstehen, denn die Schulen sind weit entfernt. Wer geblieben ist, wer keinen Job im Berliner Umland gefunden hat, fährt weite Wege über holprige Kreisstraßen zum Supermarkt, zur Post, zum Friseur, zum Arzt. Ein Horrorszenario?

Die jüngsten Szenarien für die Bevölkerungsentwicklung Brandenburgs sind so erschreckend, dass im Kabinett die Alarmglocken schrillen. Auf der jüngsten Spar-Klausur in Belzig war der erste Tagesordnungspunkt, dass Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) alle Minister bat, die Auswirkungen der demographischen Trends für jedes Ressort zu untersuchen. Jedes Ressort soll Gegenstrategien entwickeln. Am 16. September wird es eine Regierungsklausur geben, die sich ausschließlich mit der Verödung befassen wird. Denn die Zeit drängt, nachdem das Problem von der Stolpe-Regierung weitgehend ignoriert worden war. Dabei gibt es längst detaillierte Prognosen von Landesumwelt- und Statistikamt. Ein Ministeriumsmitarbeiter, der seinen Namen nicht nennen möchte, sagt: „Man streute sich zu lange Sand in die Augen, weil Brandenburg jahrelang das einzige Ost-Bundesland war, in dem die Bevölkerung wuchs.“

Inzwischen nennt Matthias Platzeck die demographische Entwicklung die „größte Herausforderung“ der kommenden Jahre. Die Fakten sprechen für sich: Während das Berliner Umland weiter wächst, jeder zweite Brandenburger dort lebt, werden die Randregionen rund 175600 Menschen verlieren. Jeden zehnten Bewohner. Das entspricht der Bevölkerung des gesamten Landkreises Barnim. Allein 62000 junge Leute werden bis 2015 die Prignitz, die Uckermark oder die Lausitz verlassen haben.

Mit dieser Abwanderung verschärft sich die Kluft zwischen dem dynamischen Umland und den Randregionen. Und in Brandenburg gibt es, wie nirgendwo sonst in der Bundesrepublik, einen starken Trend zu einer „älter werdenden Gesellschaft“. Im Jahr 2050 wird jeder dritte Deutsche älter als 60 Jahre sein. Nach den Papieren von Brandenburgs Sozialminister Günther Baaske (SPD), die dem Tagesspiegel vorliegen, wird der Anteil der Senioren in Brandenburg besonders rapide steigen: 2015 wird bereits jeder vierte Brandenburger älter als 65 Jahre sein. Die Gruppe der über 80-Jährigen wächst besonders stark. 1999 waren es 75000 Menschen, 2015 werden es 143000 sein. „Damit wächst auch die Zahl chronisch Kranker und alter Menschen mit Behinderungen, die medizinische Versorgung und Pflege bedürfen“, heißt es in dem Baaske Bericht. Für die Randregionen müsse, so der Sozialminister, über „neue Versorgungsformen“ nachgedacht werden – das Stichwort: „Wiedereinführung der Gemeindeschwester“. Baaskes Prognose lautet: Wenn es nicht gelingt, die häusliche Pflege auf dem heutigen Stand von 75 Prozent zu halten, „werden die Sozialhilfekosten für stationäre Unterbringung explodieren“. Aber auch junge Menschen werden in wenigen Jahren nur noch wenige da sein, so dass sich Brandenburgs Firmen, trotz der „hohen strukturellen Langzeitarbeitslosigkeit“ auf einen Fachkräftemangel einstellen müssen.

Angesichts dieser dramatischen Entwicklungen wird die Landespolitik die örtlichen Strukturen an vielen Orten ändern müssen. Die ersten Fragen werden in der Platzeck-Regierung bereits gestellt: Braucht man künftig noch Ausbildungsförderung? Wird es weiter vier kreisfreie Städte – außer Potsdam – mit schwindenden Einwohnerzahlen und weitere vierzehn Landkreise geben können?

Wie viele Gerichte, wie viele Krankenhäuser, Gefängnisse und Polizisten benötigt dieses veränderte Brandenburg noch? Wo werden neue Straßen gebaut, in verkehrsarmen Randregionen oder im Berliner Umland?

Die Antworten müssen schnell gefunden werden, um in den Zeiten schwindsüchtiger Kassen neue Millionengräber zu vermeiden. Noch fehlen sie, noch fehlt die Strategie für ein „modernes Brandenburg“ im Jahr 2020.

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