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Gesundheit: Die Spur des Schweizer Ötzi

Ein Gletscher bei Bern hat jetzt Funde aus der Steinzeit freigegeben – Reste eines vergessenen Alpenpasses

„Wir haben einfach Glück gehabt“, sagt Peter Suter. Der Chef der Abteilung Ur- und Frühgeschichte des Archäologischen Dienstes des Kantons Bern hat allerdings dem Glück in den letzten zwei Jahren gezielt nachgeholfen, und so konnte er jetzt eine kleine Sensation verkünden: In den Bergen zwischen Thuner See und Rhonetal entdeckten er und seine Helfer menschliche Habseligkeiten aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend. Die Hinterlassenschaften, Reste von Schuhen, Kleidung, Pfeilköcher, stammen aus der Zeit um 2700 v.Chr. – das ist Ötzi-Ära.

Begonnen hatte es im Herbst 2003 mit einer Hüttenwanderung des Ehepaares Leuenberger aus Thun. Dabei mussten die Alpinisten das 2756 Meter hohe Schnidejoch bewältigen. Das Eis des Chichli-Gletschers war so geschrumpft, dass der Weg nur noch über Geröll führte. An einer Stelle, wo das Eis erst vor kurzem geschmolzen war, entdeckte Ursula Leuenberger einen dunklen Gegenstand. Gegen den Ratschlag ihres Mannes schnallte sie den eigenartigen Fetzen auf ihren Rucksack und übergab ihn später dem Archäologischen Dienst.

Dort rätselte man zunächst: Was war das – ein Köcher? Wie alt war das – ziemlich jung, weil gut erhalten? Eine genaue Untersuchung und Datierung mit der C14-Methode zeigten dann: Das längliche Objekt aus zusammengenähter Birkenrinde, mit Lederriemen umwickelt, ähnelte in Machart und Alter Ötzis Köcher aus den österreichisch-italienischen Alpen.

Fund und Fundort wurden aus Angst vor „Schatzgräbern“ zunächst geheim gehalten. In den folgenden beiden Jahren suchten die Mitarbeiter des Archäologischen Dienstes die Gegend penibel ab. Dabei fanden sie am Rande des Eises rund 300 weitere Gegenstände: steinzeitliche Kleidungsstücke und Pfeile, Gewandnadeln aus der Bronzezeit und Schuhnägel aus römischer Ägide. Suter will im nächsten Jahr „auf alle Fälle weitersuchen.“

Besonders die steinzeitlichen Artefakte aus organischem Material haben es den Archäologen angetan. Sie sind ein wahrer Glücksfund. Denn die Holz-, Leder- und Textilreste haben sich nur erhalten, weil sie vor knapp 5000 Jahren rasch von Schnee und Eis bedeckt und jetzt nach dem Wegtauen des Gletschereises sehr schnell gefunden wurden. „Je nach Größe der Stücke“, sagt Suter, „hält sich so altes organisches Material nur ein oder zwei Wochen“, wenn es freiliegt.

Bei der professionellen Suche auf dem vergessenen Pass wurden zwei weitere größere Stücke des Köchers gefunden, eins enthielt zwei Feuerstein-Pfeilspitzen. Mehrere Pfeilschäfte aus dem Holz des Schneeballstrauchs vervollständigten die Jagdausrüstung. Ein größeres Stück Bastgeflecht könnte von einem Umhang stammen, wie ihn sich Ötzi um die Schultern legte.

Wie der Wanderer aus dem Ötztal trug der Steinzeitschweizer eine mit Lindenbast genähte Hirschlederhose. Die Archäologen machten auf ihr noch einen Reparaturflicken aus. Aus den vielen anderen Lederstückchen konnten sie einen neolithischen Schuh samt Schnürbandösen rekonstruieren. Insgesamt „haben wir Fragmente von mehr als zwei Schuhen“, berichtet Suter. Ob diese zur Fußbekleidung eines weiteren Passwanderers gehörten oder als Reservepaar mitgeführt wurden, kann er nicht sagen.

Das alles verdanken die Archäologen dem Rückzug der Gletscher im Berner Oberland, der seit Jahrzehnten anhält und vom besonders heißen Sommer 2003 beschleunigt wurde. Noch heißer war es aber im dritten vorchristlichen Jahrtausend. Damals lagen die Temperaturen in den Schweizer Alpen bis zu zwei Grad über den heutigen. Die Baumgrenze war erheblich geklettert, die Gletscherzone begann erst bei 2700 Meter.

In der ausgehenden Steinzeit und der frühen Bronzezeit nutzten die Bewohner der Zentralschweiz den später völlig vergessenen Schnidepass, um direkt ins Rhonetal zu kommen. Identische Gewandnadeln in Gräbern am Thuner See und im Rhonetal sprechen für eine solche Direkt-Verbindung. Nach einer Klimaverschlechterung um 850 v.Chr. nutzten dann die Römer ab 150 v.Chr. diese Diretissima wieder, wie die über 100 Nägel ihrer Sandalen im nun eisfreien Berggeröll belegen.

Unsere Vorfahren waren weitaus mobiler, als man gemeinhin annimmt. Ötzis Steinmesserklinge etwa stammte aus den südalpinen Gebieten Norditaliens. Aus diesen Lessinischen Alpen wurden die begehrten Feuersteinklingen auch an den Bodensee und nach Bayern, ja sogar bis nach Tschechien verhandelt.

Den steinzeitlichen Ost-West-Verkehr durch die Alpen beweisen identische Werkzeuge in der Schweiz und in Österreich. Den Austausch über weite Räume, vielleicht sogar einen regelhaften Handel, belegen viele archäologische Funde. Mit den Waren wanderten auch Ideen – und Menschen wie Ötzi. Die Chance, einen Schweizer Eismann aufzuspüren, schätzt Suter eher gering ein: „Das Eis war nicht mehr sehr dick da oben, wir hätten ihn schon sehen müssen.“

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