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Gesundheit: Langzeitstudenten sind sich selber Strafe genug

38 000 Berliner Studenten waren 1995/96 im 14.Semester und darüber / Viele müssen neben der Uni jobbenVON INGO BACHWissenschaftssenator Peter Radunski hat etwas gegen Langzeitstudenten; aber nicht, wie er kürzlich vor Berliner Hochschullehrern betonte, des Geldes wegen, sondern weil "sich die jungen Menschen durch ein überlanges Studium ihre Zukunftschancen verbauen".

38 000 Berliner Studenten waren 1995/96 im 14.Semester und darüber / Viele müssen neben der Uni jobbenVON INGO BACHWissenschaftssenator Peter Radunski hat etwas gegen Langzeitstudenten; aber nicht, wie er kürzlich vor Berliner Hochschullehrern betonte, des Geldes wegen, sondern weil "sich die jungen Menschen durch ein überlanges Studium ihre Zukunftschancen verbauen".Sein Staatssekretär Erich Thies hat auch etwas dagegen, allerdings denkt er dabei ans Geld."An der FU und TU studieren ein Drittel der Studenten länger als 14 Semester.Das ist ein belastender Kostenfaktor." Insgesamt befanden sich im Wintersemester 1995/96 in Berlin über 38 000 Studenten im 14.Semester und darüber, davon allein 34 000 an den drei Unis - damit steht die Hauptstadt im Vergleich zu den anderen Bundesländern an der Spitze. Dorthea Ohle und Roland Hane von der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studentenwerkes beraten seit Jahren Langzeitstudierende und kennen die Ursachen.An erster Stelle stehe die Berufstätigkeit neben dem Studium.Laut der letzten Sozialerhebung des Studentenwerkes jobbten die Studenten 1994 durchschnittlich acht Stunden pro Woche."Und die Tendenz ist steigend", sagt Dorothea Ohle. Sie verweist auf die schlechten Studienbedingungen an den Hochschulen."Immer wieder beklagen Studenten die mangelhafte Studienstrukturierung vor allem im Hauptstudium." Während im Grundstudium die meisten noch wüßten, welche Scheine nötig sind, beginne im Hauptstudium die Qual der Wahl.Ohle nennt als Beispiel die Germanisten, die im Durchschnitt bis zur Zwischenprüfung voll in der Regelstudienzeit liegen, danach aber oft zu typischen Langzeitstudenten werden.Hinzu komme die mangelhafte Betreuung der Erstsemester."Die sind fast auf sich allein gestellt", kritisiert Ohle.Das koste Zeit und Motivation."Man hat als Student oft das Gefühl, die Professoren betrachten einen als Belästigung." Roland Hahne erklärt die "negative Spitzenposition" Berlins mit der besonderen Studentenstruktur in der Hauptstadt.Da sei zum einen die hohe Zahl von Westberliner Studenten, die die Hochschule innerhalb Deutschlands schon einmal gewechselt haben (25 Prozent, in den alten Bundesländern liegt der Schnitt bei 16 Prozent).Außerdem sei hier auch die Fachwahl von Bedeutung."In Berlin gibt es deutlich weniger ingenieurtechnische Studenten als im bundesdeutschen Durchschnitt, dafür mehr in geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern.Ingenieure haben ein strukturiertes Programm, das ihnen den Abschluß innerhalb der Regelzeit erleichtert." Darüber hinaus sei das Leben in einer Großstadt einfach teurer als in der Provinz.Das mache es notwendig, noch länger zu arbeiten.Während zum Beispiel in Frankfurt (Main) 83 und in Berlin 72 Prozent der Studenten jobbten, seien es in den "klassischen" Universitätsstädtchen wie Heidelberg und Göttingen 20 Prozent weniger. Auch Staatssekretär Thies sieht im Nebenjob einen der Hauptfaktoren für die Studienzeitverlängerung.Nur kann er daran nicht viel ändern.Also setzt seine Verwaltung auf Reformen innerhalb der Hochschulen, die jetzt durch die neuen Hochschulrahmenverträge in Gang kommen sollen: eine bessere Betreuung der Studierenden; Pflichtberatung nach dem zweiten Semester; Zwischenprüfung spätestens nach dem sechsten Semester einschließlich der Exmatrikulation bei Nichtbestehen und einer Straffung der Studien- und Prüfungsordnungen."Das bedeutet auch die Reduzierung der Dauer der schriftlichen Abschlußarbeiten", fordert Thies."Die müssen doch in drei bis sechs Monaten zu schaffen sein, sonst wurde das Thema falsch gestellt." Bundesweit wächst der Druck auf die Langzeitstudenten.In Baden Württemberg kassieren die Hochschulen seit kurzem "Straf"-Studiengebühren von 1000 Mark pro Semester bei der Überschreitung der Regelstudienzeit um mehr als vier Semester.Und das Hochschulgesetz des Freistaates Sachsen ermöglicht schon seit 1993 die Zwangsexmatrikulation von Studenten, "die aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen die Abschlußprüfung nicht innerhalb von vier Semestern nach Abschluß der Regelstudienzeit abgelegt haben." Trotz der Zwangsexmatrikulation verfällt der Prüfungsanspruch allerdings nicht.Dies gilt übrigens auch für Berlin.Wer also alle Scheine beisammen hat und sich trotzdem vor der Abschlußprüfung exmatrikulieren läßt, kann sich an Berliner Hochschulen jederzeit wieder zur Abschlußprüfung anmelden - nach Auskunft der Senatswissenschaftsverwaltung ohne zeitliche Begrenzung. In der Hauptstadt ist die Situation für Langzeitstudenten noch moderat.Seit zwei Jahren bittet man sie zwar zu einer gesonderten Prüfungsberatung, doch damit habe man vor allem die "Karteileichen" aus den Akten entfernen wollen, sagt Staatsekretär Thies.Nach mehr Druck sieht es zumindest vorerst nicht aus.Zwar wären nach Ansicht von Thies "Gebühren wie in Baden-Württemberg ein wirksames Mittel, Studenten, die eigentlich keinen Abschluß mehr anstreben, aus den Unis zu kriegen".Er meint damit vor allem diejenigen, die ihren Studentenstatus nur wegen der sozialen Vorteile aufrechterhalten."Die 100 Mark Rückmeldegebühr reichen bei weitem nicht aus, diese Vorteile abzuschöpfen." In Berlin sei an Gebühren wie in Baden-Württemberg trotzdem nicht gedacht. Aus psychologischer Sicht sind solche Strafmaßnahmen auch gar nicht nötig, wie Ronald Hahne vom Studentenwerk betont.Die Langzeitstudenten seien sich selbst Strafe genug."Oft fühlen sie sich als Versager, gerade dann, wenn sie mit wissenschaftlichen Assistenten zu tun haben, die früher ihre Kommilitonen waren." Viele der Betroffenen hätten schon jahrelang die Uni nicht mehr von innen gesehen.Und nach dem Motto, "wenn ich schon 20 Semester studiert habe, muß ich auch ein Superdiplom hinlegen", werde der Wiedereinstieg immer schwieriger.Hier setzt die psychologische Beratungsstelle an."Wir passen diese Ansprüche wieder der Realität an und versuchen, psychische Hindernisse aus dem Weg zu räumen", sagt Dorothea Ohle.Um einen Weiterstudieren um jeden Preis gehe es dabei allerdings nicht, sondern um die Rückgewinnung der Freiheit, sich für oder gegen die Fortsetzung des Studiums entscheiden zu können. Psychologisch-psychotherapeutische Beratungsstelle des Studentenwerkes, Bismarckstraße 98, Telefon 3 12 10 47.

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