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Gelb und gesund. Der Nutzen vegetarischer Kost übersteigt die Risiken bei Weitem.

© dapd

Vegetarische Ernährung: Teller ohne Tiere

Vor 30 Jahren lebten 500 000 Vegetarier in Deutschland, heute sieben Millionen – bei steigender Tendenz. Eine Fachkonferenz in Berlin hat jetzt die gesundheitlichen Vorteile von Fleischverzicht bestätigt.

Manchmal kommt sich Patrick Baboumian vor wie bei Asterix und Obelix. Wenn er mit den stärksten Männern Deutschlands zum „Strongman-Wettbewerb“ zusammenkommt, recken sie Baumstämme in die Höhe, werfen Waschmaschinen durch die Gegend oder schieben Autos vor sich her. Und wenn sie fertig sind, setzen sie sich wie die Gallier an eine Tafel und hauen sich die Bäuche voll. Statt Wildschweinen gibt es Riesenschnitzel, Hamburger oder andere Fleischgerichte. Kein Wunder, dass die Kollegen für Baboumian da nur ungläubiges Staunen übrig haben. Denn Baboumian, 2011 zum „stärksten Mann“ Deutschlands gekürt und amtierender Europameister im „Raw-Powerlifting“, ernährt sich komplett fleischlos. „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ hatte das Fleischerhandwerk einst stolz verkündet. Der 33-jährige Veganer Baboumian beweist dagegen seit Jahren das, was Elefant und Gorilla im Tierreich bereits seit Urzeiten nachgewiesen haben: dass man auch ohne die Aufnahme tierischer Proteine zu den Stärksten gehören kann.

Auch die Wissenschaft hat sich des Themas Vegetarismus und Veganismus in den vergangenen Jahren verstärkt angenommen. Einige Mythen über angebliche Probleme der fleischlosen Ernährung sind dabei mächtig ins Wanken geraten. „Der Wind hat sich gedreht“, sagt Andreas Michalsen, Chefarzt am Zentrum für Naturheilkunde des Berliner Immanuel-Krankenhauses. „Vor 20 Jahren hat man in der Wissenschaft noch gefragt, wie schädlich vegetarische Kost ist. Heute fragt man, wie stark gesundheitsfördernd sie ist.“

Vor kurzem gaben Michalsen und der Leiter des Instituts für alternative und nachhaltige Ernährung in Gießen, Markus Keller, auf einer wissenschaftlichen Fachkonferenz zu vegetarischer Ernährung in Berlin einen Überblick über die wichtigsten Forschungsergebnisse. Fazit: Das Risiko, an Herz- und Krebsleiden, Schlaganfällen, Rheuma, Diabetes mellitus oder Bluthochdruck zu erkranken und übergewichtig zu werden, ist für Menschen, die auf Fleisch verzichten, deutlich geringer. Eine Eisenmangelanämie, also Blutarmut, kommt bei Vegetariern nicht häufiger vor als bei Nicht-Vegetariern. Epidemiologische Studien aus der Altersforschung weisen zudem darauf hin, dass Vegetarier länger leben. Tatsächlich hat der US-amerikanische Bestsellerautor Dan Buettner vor Jahren in seinem Buch „Blue Zones“ darauf aufmerksam gemacht, dass sich Menschen in Regionen mit der höchsten Lebenserwartung wie der japanischen Insel Okinawa, der griechischen Insel Ikaria oder der Nicoya-Halbinsel in Costa Rica überwiegend vegetarisch ernähren.

Allerdings geht der Verzicht auf Fleisch meist mit einer generell gesünderen Lebensweise einher. Vegetarier treiben mehr Sport und rauchen und trinken weniger. Studien, die diesen Effekt herausrechnen, würden die positiven Auswirkungen der vegetarischen Kost jedoch bestätigen, sagt Michalsen. „Die Vorteile sind eindeutig.“ Man müsse bei der fleischlosen Kost aber genau hinschauen und auf eine ausgewogene Ernährung achten. „Es gibt gute und schlechte Fette oder Kohlenhydrate. Es bringt nichts, nur Spaghetti und Kartoffelbrei zu essen.“ Zudem heißt Vegetarier nicht gleich Vegetarier. Manche verzichten nur auf Fleisch, essen aber weiterhin Milchprodukte (Lacto-Vegetarier), andere verzehren zudem noch Eier (Ovo-Lacto-Vegetarier) oder verzichten völlig auf tierische Produkte (Veganer).

Prinzipiell sei eine vegetarische Kost bei einer ausgewogenen Ernährungsweise bedenkenlos möglich, sagt Antje Gahl von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). „Je eingeschränkter die Lebensmittelauswahl ist und je weniger abwechslungsreich die Kost, desto größer ist aber die Gefahr von Nährstoffmangel oder Unterversorgung.“ Dies gelte insbesondere für Säuglinge und Kinder, die Proteine, Eisen, Kalzium, Jod und B-Vitamine für ihr Wachstum brauchen. Während der Bedarf an diesen Nährstoffen durch eine vegetarische Kost durchaus gedeckt werden könne, sei dies durch eine vegane Kost kaum möglich. „Von einer veganen Ernährung raten wir bei Kleinkindern deswegen ab.“

Ein kritischer Nährstoff, auch bei Erwachsenen, ist Vitamin B12. Der menschliche Körper braucht ihn nur in geringen Mengen, er ist aber wichtig für das Funktionieren von Nervensystem, Zellteilung und Blutbildung. In pflanzlichen Lebensmitteln kommt Vitamin B12 nicht vor. Zwar enthalten fermentierte Algen und andere Lebensmittel sowie Milchprodukte und Eier geringe Mengen des Vitamins. Eine ausreichende Versorgung ist für Lakto-(Ovo)-Vegetarier dadurch aber nicht immer gewährleistet. Für Veganer ist sie praktisch unmöglich. Sie sollten deshalb regelmäßig mit Vitamin B12 angereicherte Lebensmittel verzehren.

Eine Kleinigkeit, glaubt Andreas Michalsen. „Der Nutzen der fleischlosen Ernährung übersteigt die Risiken bei weitem“, betont der 51-Jährige. Glaubt man den Zahlen des Deutschen Vegetarierbundes, dann sehen das immer mehr Konsumenten ähnlich. So sei die Zahl der Vegetarier in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren von rund einer halben Million auf inzwischen knapp sieben Millionen gestiegen. Laut einer Umfrage der Universität Jena verzichten allerdings nur 14 Prozent der Vegetarier aus gesundheitlichen Gründen auf das Fleisch. 63 Prozent gaben dagegen an, aus ethisch-moralischen Gründen dem Tier auf dem Teller abgeschworen zu haben.

Angesichts der Zustände in der Tierproduktion eine logische Entscheidung, findet die amerikanische Psychologin Melanie Joy. Die Professorin an der University of Massachusetts in Boston hat sich intensiv mit dem Thema Fleischkonsum beschäftigt und für ihre Doktorarbeit vor ein paar Jahren mehrere Umfragen durchgeführt. Ihr Fazit, das sie auf der Berliner Vegetarier-Konferenz präsentierte: „Fast alle Menschen haben moralische Bedenken beim Fleischkonsum.“ Dass sie dennoch weitermachen, könne man nur mit einem Verdrängungsmechanismus erklären, der weit über das individuelle Maß hinausgehe und einer unsichtbaren Ideologie ähnele, die Joy „Karnismus“ getauft hat. „Der Karnismus lehrt uns, nicht zu fühlen und unsere Empathie zu blockieren. So schaffen wir es, keine Verbindung zu ziehen zwischen dem Fleisch auf dem Teller und dem Tier, das es mal war“, sagt Joy. Diese selektive Empathie führe unter anderem dazu, dass unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Tiere für essbar definieren – und dieselben Menschen mit der einen Hand ein Tier streicheln, während sie in der anderen einen Burger halten.

Dieser offensichtliche Widerspruch hatte auch Andreas Michalsen vor einigen Jahren dazu bewogen, Vegetarier zu werden. „Das beste Fleisch ist immer noch Fruchtfleisch“, sagt er augenzwinkernd. Angesichts der hohen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Kosten des Fleischkonsums fordert er einen Wertewandel. Dabei sollte man aber verständnisvoll und behutsam vorgehen, wie die Diskussion um Risiken und Gefahren des Rauchens gezeigt hat: Argumente wie eine höhere Attraktivität, besserer Atem oder schönere Haut hatten einen deutlich größeren Effekt als aggressive Anti-Raucher-Werbung.

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