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Harald Martenstein.

© dpa

Martensteins Mauerfall: Wenn Gulasch die Revolution kaputt macht

Was hatten die Nacht des Mauerfalls und ein Abendessen gemeinsam? Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein erklärt den Zusammenhang zwischen Welt- und Herdpolitik.

In diesem Jahr feiern wir Deutschen „20 Jahre Fall der Mauer“. Alle Bürger sind aufgefordert, persönliche Geschichten zu erzählen, „mein Fall der Mauer“. Ich zum Beispiel habe am Abend des 9. November 1989 in einer Dachgeschosswohnung ferngesehen. Das weiß ich noch ganz genau: Ich hatte Szegediner Schweinsgulasch gekocht. Man hat gerne schwer und fettig gegessen damals. Man trank auch meistens Bier dazu. Meine Frau sagte, ich geh zu Bett, weißt du, das oder der Gulasch war gut, aber es hat mich mental und physisch müde gemacht. Ich sagte, ich sehe noch fern. Mein politisch-journalistischer Instinkt war in dieser Nacht hellwach, er flüsterte: „Sieh fern!“ Mein Instinkt war wach, der Rest von mir ist auf dem Sofa eingeschlafen. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Im Fernsehen waren gröhlende, betrunkene Leute zu sehen und verstopfte Straßen. Da habe ich ausgemacht, ich hasse Karneval.

Am nächsten Morgen hatte ich Bauchzwicken wegen des schweren, fettigen Gulasches. Um 9 Uhr habe ich das Radio angemacht. Danach bin ich sofort zum Grenzübergang Heinrich-Heine- Straße, mit dem Auto. Dort habe ich nach einer Weile aus Solidarität drei DDR-Bürger in mein Auto eingeladen, ich sagte: „Ich fahr euch im Westen spazieren.“ Es waren eine junge Frau und zwei Typen. Wir standen aber sofort im Stau, in einer total hässlichen Neubaustraße. Die Frau wollte wissen, wo im Westen wir sind. Ich sagte: „In Kreuzberg.“ Die DDR-Bürger hatten sich Kreuzberg anders vorgestellt. Der Typ fragte: „Wo sind denn die ganzen Türken?“ Bei aller Solidarität, ich wusste nicht, wo ich auf die Schnelle Türken herholen sollte, echt. Die DDR-Bürger waren enttäuscht, weil die Gegend wirklich extrem öde war und es keine Türken gab, und weil wir im Stau standen. Sie sind ausgestiegen und davongelaufen. Ich habe jedem 20 Mark geschenkt, aus Solidarität, und weil ich mich wegen der hässlichen Gegend geschämt habe. Dann bin ich in die Redaktion gegangen.

Ein Kollege erzählte, dass er die Öffnung der Mauer live erlebt hatte und danach in die Redaktion rannte und schrie: „Die Mauer ist offen! Die Mauer ist offen!“ Der Nachtchef ging ganz ruhig zum Fernschreiber. Dann sagte er, in den Agenturen stünde nichts davon, dass die Mauer offen sei. Der Kollege irre sich. Das seien betrunkene Hertha-Fans. Inzwischen zogen nämlich jubelnde DDR-Bürger die Potsdamer Straße entlang. Fünf Minuten später meldeten alle Agenturen die Grenzöffnung. Hertha hatte nämlich überhaupt nicht gespielt an dem Tag! Der Kollege war sauer.

Und ich brauchte Jahre, bis ich wieder Gulasch essen konnte. Gulasch hat mir die einzige Revolution meines Lebens kaputt gemacht. Zwischen mir und dem Gulasch steht bis heute eine psychologische Mauer.

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