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Tischordnung. So gesittet geht es eher selten zu.

© dpa/Georg Wendt

Betreuungskrise in Brandenburg: Ein Kita-Betreiber zeigt sich an – zum Schutz der Kinder

An den harten Tagen wacht nur eine Erzieherin über 15 zappelnde, hungrige, raufende Kinder. Die Landespolitik schaut zu – also greift der Kita-Betreiber zum Äußersten.

Tim, nirgends ist Tim. Ramona Köhler schaut nervös hin und her. Der Vierjährige trödelt oft, träumt vor sich hin, und jetzt ist er nirgendwo hier draußen, im Garten der Kita, zu sehen. Frau Köhler, seine Erzieherin, konnte nicht darauf warten, bis er sich seine Schuhe angezogen hat. Denn da sind noch 14 andere Kinder, die sie zu bändigen hat. Auch jetzt wieder: Mia, das zarteste Mädchen der Gruppe, weint, ein größerer Junge hat sie gehauen. Während sie die Fünfjährige tröstet, taucht Tim wieder auf. Er war im Kindergarten durch den menschenleeren Flur gelaufen. Erschrocken darüber, dass er vergessen wurde.

„Wir müssten die Kinder natürlich viel intensiver betreuen“, sagt Ramona Köhler und nimmt Mia in den Arm.

Nur wie?

Es ist halb zehn im Integrationskindergarten Regenbogen in Cottbus. 60 Mädchen und Jungen kommen Tag für Tag in das orangefarben gestrichene Haus inmitten einer Großwohnsiedlung. Inmitten eines sozialen Brennpunktes, wo viele Eltern lange Schichten schieben, um genug Geld für die Familie zu verdienen, oder keine Arbeit haben und Hartz IV beziehen. Die ihre Kinder morgens mit den Worten hier lassen: „Wenn der dich heute wieder haut, dann kloppste zurück!“

In jeder der vier Gruppen versuchen das eine Integrationserzieherin und eine Heilpädagogin zu verhindern. Bei Mia und Tim scheitern sie schon am Morgen. Es ist unmöglich, mit vier Augen stets über 15 kleine Kinder gleichzeitig zu wachen. Und das heute ist einer der leichten Tage.

An den harten Tagen, wenn jemand krank ist, im Urlaub, eine Fortbildung macht, kümmert sich eine einzige Erzieherin um die ganze Gruppe. Um 15 zappelnde, fordernde, fragende, hungrige, raufende Kinder. Muss sie den Tee aus der Küche holen, sind die restlichen Zwei- bis Siebenjährigen allein. Muss sie mit einem der ganz Kleinen ins Bad, weil das mit der Toilette nicht klappt, schon wieder.

Der Betreiber will ein Unheil nicht verantworten

Der Betreiber der Kita, die Fröbel Bildung und Erziehung gGmbH, will das nicht mehr verantworten: Deswegen hat er sich vergangenen Monat beim brandenburgischen Bildungsministerium selbst angezeigt. Die Firma sehe sich „gezwungen Ihnen anzuzeigen, dass wir den vom Gesetzgeber vorgesehenen Personalschlüssel nicht einhalten können“.

Ein einmaliger Schritt. Und ein riskanter, weil er den Verlust der Betriebserlaubnis nach sich ziehen könnte. Fröbel geht ihn trotzdem, weil die Erzieherinnen nicht mehr könnten, die Politik das wissentlich ignoriere und die Sicherheit der Kinder nicht mehr garantiert sei. Fröbel ist mit 165 Einrichtungen, rund 3300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und 14 900 Kitakindern einer der bundesweit größten Betreiber von Kindertageseinrichtungen. Der Hilferuf gilt aber nur dem Bundesland Brandenburg.

Der Grund: Die Mehrheit der Kinder im Kindergarten Regenbogen ist acht, neun, zehn Stunden hier. Die Erzieherinnen werden aber nur für siebeneinhalb Stunden vom Land bezahlt. Die zunehmend längere Betreuung, auf die ein Drittel der Eltern wegen ihrer Arbeitszeiten einen rechtlichen Anspruch hat, oder die das Jugendamt wegen einer heiklen familiären Situation gewährt, müssen die Kitas aus eigener Kraft stemmen.

Die Kraft der Erzieherinnen ist aber aufgezehrt. Sie sind erschöpft, sind mit rund 19 Fehltagen im Jahr häufiger krank als Durchschnittsangestellte. Sie haben Fröbel bestätigt, dass sie ihrer gesetzlichen Aufsichtspflicht so nicht mehr nachkommen können. In seiner Selbstanzeige schreibt Fröbel auch davon, seine Mitarbeiter davor bewahren zu wollen, im Falle von „Unfällen mit Kindern in Haftung genommen zu werden“.

Die würden sich gerne mehr kümmern. Nur wie?

Ramona Köhler – blondes, krauses Jahr, seit 1980 Erzieherin, seit 1998 in der Kita Regenbogen – und ihren Kolleginnen geht es aber nicht nur um die schlimmsten Szenarien. Sondern auch darum, jene Kinder in ihrem integrativen Kindergarten angemessen betreuen zu können, die einen besonderen Förderbedarf haben. In der Kita Regenbogen ist das in jeder Gruppe bei fünf Mädchen und Jungen der Fall.

Nina balanciert auf dem Boden über ein Seil, tritt aber ständig daneben, weil sie guckt, was die anderen machen. Sie hat eine Lernbehinderung, kann sich nicht konzentrieren. Lea, sieben Jahre alt, geht ruhig und fehlerfrei über das Seil, aber bekommt Worte nur mit Mühe heraus, obwohl sie seit einem Jahr in der Schule sein müsste.

Sie brauchen viel Aufmerksamkeit, Zuspruch und Geduld, was nur in kleineren Gruppen geht. Nina würde sich dann weniger ablenken lassen, Lea würde sich trauen, mehr zu sprechen. Die dafür ausgebildeten Erzieherinnen könnten mit den Kindern kleine therapeutische Spiele machen. Zum Beispiel buchstabieren üben, oder mit einer Trommel einen Takt vorgeben, nach dem die Kinder dann im Kreis marschieren.

Sie würden sich auch gern mehr um die kümmern, die auffällig schreckhaft sind oder etwas verwahrlost aussehen. Die autistisch sind oder aggressiv.

So wie Micha.

Micha brüllte, Micha biss andere Kinder. Micha warf Plastikautos nach den Erzieherinnen. Bei Micha dachte Ramona Köhler, sie lässt sich krank schreiben, so lange es geht. Gibt auf. Jetzt ist Micha weg, wird woanders gefördert, weil er, wie sich herausstellte, hochbegabt ist. „Wie sollten wir in dem Tumult denn auf so was kommen?“, fragt Frau Köhler. Dabei liest sie sich zu Hause doch schon Artikel und Bücher über Verhaltensstörungen durch. Abends, wenn sie sich eigentlich vom Tag erholen müsste.

Um seinen Aufgaben gerecht zu werden, braucht Fröbel nach eigenen Angaben für seine 36 Kitas in Brandenburg 36 neue Vollzeitmitarbeiter. Aktuell sind es 755 Beschäftigte.

Wird sie laut, kriegt Jolina einen Wutanfall

An diesem Mittwoch wollen Brandenburger Erzieher, Eltern und Sozialverbände vor dem Landtag in Potsdam demonstrieren. Die Forderung: mehr Personal und eine dritte Betreuungsstufe von acht bis zehn Stunden. Der Landtag, der heute in letzter Lesung über eine Kitagesetznovelle diskutiert, hat diese Vorschläge mit rot-roter Mehrheit stets abgelehnt. Zuletzt Anfang des Jahres, nachdem CDU und Grüne einen Antrag gestellt hatten. Bislang, so die Argumentation, habe es doch auch geklappt.

Aber es klappt nicht mehr, nicht in der Kita Regenbogen.

Im Sandkasten hockt Mia, die zu früh auf die Welt kam und sich schwer in ihr zurecht findet. Julia, auch fünf, mit ihren dunklen, wirren Haaren, schüttet friedlich Sand in einen Eimer, aber manchmal bekommt sie aus dem Nichts heraus einen Wutanfall. Wie eine Sirene fängt sie an zu schreien, wirft mit Sachen um sich, weswegen die Erzieher mit ihr den Raum verlassen müssen. Ist an dem Tag nur eine Erzieherin in der Gruppe, sind Mia, Tim und die anderen dann wieder einmal allein.

Um viertel vor acht ist Frühstück. Um neun Uhr gibt es Obst. Wenn sich ein Kind wild darauf stürzt, weiß Frau Köhler sofort: Zu Hause gab es nichts zu essen. Dazwischen malen sie heute ein Bild. Ein spontaner Einfall. Pläne gibt es nicht. Pläne muss man vorher machen. Dafür ist keine Zeit. Alles muss hastig gehen, und das, wo die Kinder es ruhig und langsam bräuchten.

Die Erzieherinnen müssten so viel. Sie müssten intensiver über die schwierigen Kinder sprechen und detaillierter Probleme dokumentieren. Für sich, die Eltern, das Jugendamt.

Ramona Köhler ist froh, als sich die Kinder nach dem Mittagessen zum Schlafen fertig machen. „Manchmal ratschen die Kinder so an den Nerven, da reicht nur ein Wort und man schimpft in einem Ton, den man sofort bereut“, sagt sie. Vor allem bei Julia. Deren Mutter hat noch zwei Kinder, ist bemüht, aber überfordert. Der Vater lebt nicht bei der Familie, verschwindet immer mal, taucht wieder auf. Frau Köhler weiß nicht, was die Auslöser für Julias Ausbrüche sind, aber wird Frau Köhler mal etwas schroff, ist es wieder so weit.

Jedes Kind holt seine Matratze und legt sie auf dem Boden. Tim zieht sich einen blau-weiß-gestreiften Pyjama an, Lea blättert mit dem Kleinsten der Gruppe, der zwei Jahre alt ist, ein Bilderbuch durch. Frau Köhler lässt die Rollläden runter. Heute liest sie nichts vor. Sie hören das Märchen vom gestiefelten Kater auf CD zum Einschlafen.

Was, wenn ein Kind irgendwann verschwindet?

Ein paar Zimmer weiter hat Karena Richter ihr Büro, 54 Jahre alt, blond, Jeans, blaue Bluse, Vollbluterzieherin, seit 2005 Leiterin der Kita. Sie hat einen 40-Stunden-Vertrag, aber ist nur 12,5 Stunden für die Aufgaben freigestellt, die sich auf ihrem Schreibtisch stapeln. 27,5 Stunden soll sie in den Gruppen sein und mit den Kindern spielen, was nicht geht und von den zu wenigen Kolleginnen übernommen wird. Sie sagt: „Jeden Tag hab ich ein schlechtes Gewissen.“

Wenn alle Mitarbeiter da sind, kriegen sie den Tag gestemmt. Irgendwie. Die letzten Tage haben aber fünf gefehlt. Karena Richter übernahm eine der Gruppen, allein, und immer wieder war da dieser Gedanke: Das ist so brenzlig, das kann ich eigentlich nicht verantworten. Vor allem nach dem Unfall.

Ein Junge kam schluchzend zu ihr, mit einer Schürfwunde am Schienbein. Wo er die herhatte, weiß niemand. Hat niemand gesehen. Er weinte und weinte – und so mussten alle Kinder der Gruppe mit rein, damit sie ihn auf ein Kissen setzen und ein Pflaster auf die Blutung kleben konnte. Die anderen draußen lassen ging nicht. Obwohl es so schön warm war. Doch manche Kinder wissen, wie das Törchen aufgeht. Was da alles passieren kann. Ein Kind geht raus und findet nicht zurück. Ein Autofahrer kann nicht rechtzeitig bremsen. Karena Richter könnte sich so was nie verzeihen.

Nur ein Tag war noch schlimmer: Vier Erwachsene bei 60 Kindern. „Da hab ich überlegt, für den Tag zu schließen“, sagt Karena Richter. Und tat es dann nur nicht, weil sie einige Eltern überreden konnte, die Kinder wieder mitzunehmen.

Heute zeigt sie zwei Müttern das Haus. Eine ist Anfang 20, ausgemergelt, blass, mit einem neun Monate alten Baby auf dem Arm. Die andere ist schwanger. In Cottbus fehlen derzeit 400 Plätze – da kann die Suche gar nicht früh genug beginnen.

Zuvor hat die Leiterin mit einer Mutter telefoniert, die noch nicht das Essensgeld überwiesen hat. Hat bei einer anderen nachgefragt, warum der Sohn schon wieder fehlt, und einer dritten erklärt, wieso sie von nun an nur noch einen Vertrag über siebeneinhalb Stunden abschließt. Fröbel, der Kitabetreiber, hat festgesetzt, dass jetzt ausschließlich Verträge über die Stunden abgeschlossen werden, die das Land tatsächlich bezahlt.

Die Leiterin hat Schuldgefühle. Jeden Tag

Wenn Tina Barner ihren Vertrag bald zu diesen Bedingungen verlängern muss, könnte sie ihren Job verlieren. Die 33-Jährige arbeitet im Büro einer Metallbaufirma, um sich und ihre beiden Töchter zu ernähren. Morgens steht sie um halb sechs auf, bringt die Vierjährige um sieben zur Kita Regenbogen, die Neunjährige zur Schule. Arbeitet von acht bis halb vier. Holt die Große danach vom Hort ab und die Kleine um halb fünf von der Kita. Sie ist stets eine der ersten, die kommt, und eine der letzten, die geht. Ein schlechtes Gewissen? Vielleicht. Aber was soll sie machen.

„Mein Chef würde jedenfalls nicht wollen, dass ich nur fünf Stunden komme“, sagt sie, „das Geld würde uns auch nicht reichen – und als Alleinerziehende ist es schwer, eine neue Stelle zu finden.“

Den Erzieherinnen sieht sie nachmittags die Müdigkeit vom Tag an. Dass sie nicht genug Zeit für ihre Tochter haben, nicht gut genug auf sie achten, fürchtet sie nicht. „Ich vertraue den Frauen zu 100 Prozent, weil sie pausenlos 150 Prozent geben. Aber mich wundert nicht, dass immer mal jemand krank ist.“

Karena Richter ist eine freundliche Frau, die viel lacht und sich wenig beklagt. Doch beim Thema Politik wird sie wütend. Die Argumentation von Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) lautet: „Niemand weiß, wie der tatsächliche Bedarf ist. Und bevor wir das nicht besser wissen, können und wollen wir keine seriöse Veränderung auf den Weg bringen.“ Karena Richter kann nicht fassen, wie das niemand wissen will. „Hier eine Erhebung für das Jugendamt, da eine für das Statistische Landesamt, ständig verbringe ich Stunden damit, Tabellen auszufüllen. Wo verschwinden die denn alle hin?“

Die Bertelsmann-Stiftung hat in einer Studie festgestellt: Cottbus verfügt über den allerschlechtesten Personalschlüssel in Deutschland.

Würde sie eine Erzieherin mehr haben, müsste Karena Richter keine Überstunden machen, wäre am Freitagabend nicht völlig fertig. Ihre Kolleginnen könnten sich mal nur um zwei oder vier Kinder kümmern. Vielleicht könnten sie die kleine Bibliothek im ersten Geschoss wieder öffnen, die alle so liebten.

Ihre Schuldgefühle wären kleiner. Gegenüber den Kolleginnen und den Kindern, die sie jedes Mal hat, wenn sie in ihrem Büro das Körbchen mit den Pappsternen sieht. Die Kinder bekommen mit einem Stern Zeit mit Karena Richter geschenkt. Eine Stunde für ein Kind, das sich aussuchen darf, was gemacht wird.

Die letzte Sternstunde der Kinder ist ein Jahr her.

Die Namen der Kinder wurden geändert

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