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Wahlverwandtschaft. Jutta Volgmann, 80, und Nadine Fredow, 36, treffen sich regelmäßig auf einen Caipirinha.

© Mike Wolff

Familienersatz in Berlin: Biete Spaß, suche Oma - ein Projekt gegen Einsamkeit

Ihr Sohn kommt selten vorbei. Und die anderen Heimbewohner sind dement. Jutta war einsam. Bis sie Nadine traf. Geschichte einer Familienzusammenführung.

Von Julia Prosinger

Nadine ruft, alle sollen sich strecken, als wollten sie die Decke erreichen. Sieben Frauen in engen Leggings gehorchen, stöhnen, schwitzen. Rechter Fuß, linker Fuß, Nadine dreht die Anlage lauter, Abba, „Mamma Mia“, rennt zur Tür, begrüßt die nächste, korrigiert hier ein Bein, klopft da auf eine Schulter. Nadine ist draußen, im Leben. Die Chefin im pinkfarbenen Friedrichshagener Fitnessstudio.

Jutta, zur gleichen Zeit, ruft Guten Appetit. Die Frauen am Tisch starren vor sich hin, als wären sie Figuren in einer Puppenstube. Ob es ihr schmeckt, fragt Jutta die eine. Keine Antwort. Jutta ist drinnen, im Seniorenheim. Um sie herum sind alle dement. Nicht immer ist man zusammen weniger allein.

Drinnen und draußen, das sind hier getrennte Welten. Aber manchmal weht ein wenig draußen hinein zu Jutta.

So wie heute, kurz vor Weihnachten, als Nadine Fredow, 36, Jutta Volgmann, 80, im Seniorenzentrum an der Schöneberger Hauptstraße besucht. Ein apricotfarbener Neubau neben dem Lidl, unten das Nagelstudio „Stern“. Ob der schöne Granatapfel-Kuchen für ihn sei, fragt ein Bewohner Nadine im Aufenthaltsraum von Etage 4, wo Winterdeko in den Fenstern klebt und auf den Tischen Spitzendecklein liegen. Jutta weist ihn zurecht: „Das ist mein Besuch!“

Besuch ist hier ein knappes Gut.

Jutta sagt nie Nein

Juttas Sohn kommt alle paar Wochen vorbei. Unregelmäßig. „Er hat ja sein eigenes Leben.“ Genügsamkeit war für ihre Generation überlebenswichtig. Ihre Schwester schafft es auch nicht jeden Monat. Wer nichts erwartet, wird nicht enttäuscht. „Die anderen sind doch viel verlassener als ich“, sagt Jutta und nickt in Richtung der dementen Damen, die mit den Oberkörpern vor und zurück wanken.

Wenn es eine Ausstellung gibt, eine Lichterfahrt ansteht, dann ist Jutta, die beim Vornamen genannt werden will, immer dabei.

Jutta sagt nie Nein. Damit sie mal rauskommt. „Ich spreche, als säße ich im Gefängnis.“ Dabei kuriere sie doch nur die Folgen eines Schlaganfalls aus. Seit drei Jahren. Jutta Volgmann beobachtet sich beim Sprechen, nimmt die Worte zurück, wenn sie nicht passend scheinen.

Etwa zwei Millionen Deutsche in Juttas Alter leben laut Statistischem Bundesamt allein. 60 Prozent davon sind Frauen. Jeder Vierte der Altersgruppe über 80 bekommt weniger als einmal im Monat Besuch. Jeder Zehnte trifft überhaupt niemanden mehr. In der Singlehauptstadt Berlin wird dieser Trend noch zunehmen.

Nach einer Studie der TU München berichten bis zu 20 Prozent der Senioren von starker Einsamkeit. Längst ist erwiesen, was für ein Gesundheitsrisiko das ist: einsam sein macht depressiv, Herzerkrankungen wahrscheinlicher, zerstört das Immunsystem.

Alte wie Jutta sind in den Großstädten unsichtbar geworden. In manchen Bezirken kommen sie fast gar nicht mehr vor. In Prenzlauer Berg beträgt der Anteil der über 65-Jährigen nur noch sieben Prozent. Die Gentrifizierung treibt sie an den Rand der Stadt.

Sie lehnen stundenlang am Fenster, schalten den Fernseher nicht mehr aus, sitzen bis zum Ladenschluss im Einkaufszentrum über einer Tasse Kaffee. Sie sterben allein und manchmal verwesen sie auf dem Wohnzimmerteppich, weil niemand sie vermisst.

„Reg dich nicht auf, Jutta“, sagt Nadine mit dieser Stimme, die vor Frohsinn manchmal überkippt, und meint den alten Herrn. Sie reißt die Schränke in der fremden Küche auf, als sei sie hier angestellt. Holt zwei Teller für den Granatapfel-Kuchen. „18 Jahre Hotellerie“, sagt sie. Anpackerin. Problemwegräumerin.

Ihr erstes Slow Date

Wenn sie jetzt davon erzählen, die Alte und die Junge, Jutta im Rollstuhl und Nadine die Fitnesstrainerin, wie sich drinnen und draußen das erste Mal mischten, klingen sie wie ein eingespieltes Ehepaar. „Weißt du noch?“. „Ja, weißt du denn nicht mehr?“

"Wollen Sie ein Wasser?", fragte Nadine. Der Beginn vom Ende der Einsamkeit.
"Wollen Sie ein Wasser?", fragte Nadine. Der Beginn vom Ende der Einsamkeit.

© privat/Tante Inge

Es war erst im vergangenen Juli, ein heißer Sommerabend. Nadine hatte im Fernsehen von einem Projekt gehört, das sich „Tante Inge“ nennt und das Alt und Jung zusammenführt. Aber mit den Themenabenden zum Stricken konnte sie nichts anfangen. Dann lud die Initiative zu „Tante Inge trinkt Cocktails“, Nadine ging hin und Jutta rollte im gestreiften Shirt auf die Dachterrasse des apricotfarbenen Seniorenzentrums.

„Wollen Sie ein Wasser?“, fragte Nadine vorsichtig. Der erste Satz bei diesem Slow Date, der Anmachspruch. „Ich dachte, hier gibt es Cocktails.“ Jutta zog die Augenbraue hoch.

Das gefiel Nadine. Sie tranken einen Caipirinha. Und einen Hugo. Bisschen wenig Alkohol für Juttas Geschmack. Ihr Alter wollte sie zunächst nicht verraten. „Da bleibe ich eitel.“ Jutta muss man erst erobern.

Der Beginn vom Ende der Einsamkeit

Jutta Volgmann und Nadine Fredow bei ihrem ersten Date: Nadine musste Jutta erst erobern.
Jutta Volgmann und Nadine Fredow bei ihrem ersten Date: Nadine musste Jutta erst erobern.

© privat/Tante Inge

Sie sprachen übers Reisen. Jutta war mal auf den Spuren der Könige in China. Und kennt die Kanaren gut. „Welche Insel würdest du mir empfehlen?“, fragte Nadine. Sie aßen Lachsschnittchen und Erdbeeren. Es war der Beginn vom Ende der Einsamkeit.

Wer sieht, wie Nadine Jutta in den Rollstuhl hievt, fragt sich: Was muss passieren, damit Menschen helfen? Warum werden sie Schöffen, warum freiwillig Schatzmeister im Verein? Laut einer Studie des IFD Allensbach arbeiten in Deutschland etwa 12 Millionen ehrenamtlich. Die meisten setzen sich für Kinder und Jugendliche ein.

Seit im Sommer immer mehr Flüchtlinge kamen, haben weitere das Helfen entdeckt. In der sentimentalen Zeit, zu Weihnachten oder dem Jahreswechsel, spenden mehr als zwei Drittel aller Deutschen für einen guten Zweck. Sie denken dabei an christliche Nächstenliebe und daran, noch schnell etwas Gutes zu tun, bevor das Jahr um ist.

Bis zu sieben Jahre länger lebt jemand, der anderen regelmäßig hilft, wie Forscher der Universität Michigan herausgefunden haben wollen. Man könnte also sagen, dass Nadine Fredow gut für sich sorgt. Weil ja vielleicht der am Ärmsten ist, der niemanden hat, um den er sich kümmern kann. Sie hat keine Geschwister und keine Tanten, sie hat keine Kinder, keinen Hund.

Nadine fehlte eine Oma

Aber etwas Liebe übrig. Und Erinnerungen. An die Großmutter, die in Fürstenwalde wohnte, gegenüber ihrer Grundschule. An Kuchen mit Zitronenlimo und getoasteten Hefezopf mit Erdbeermarmelade. Nadine, Omakind. An die vielen Nachmittage vor dem Mensch-ärgere-dich-nicht-Brett. Bis die Oma ins Seniorenheim kam und 2007 starb. Jedes Mal, wenn Nadine seither alte Leute allein auf der Straße sah, dachte sie: Warum ist das so?

Lange Zeit hat Nadine Fredow andere optimiert. Hat Ernährungstabellen aufgestellt und Bauchumfänge gemessen und nicht gemerkt, dass ihr selbst etwas fehlt. Eine Oma. Jutta.

Nach dem ersten Date hat Nadine ihr eine Karte geschickt. Mit einem Bild aus Karow, wo sie wohnt. Sie haben dann ein paar Mal telefoniert und sich getroffen. Sie lernen sich noch kennen.

Die Kupplerin dieses jungen Glücks sitzt in einem Café in Friedrichshain und lacht selig, wenn sie davon spricht. Kerstin Müller hat vor zwei Jahren ihre vergessene Großtante in Magdeburg zum ersten Mal getroffen: Tante Inge. Die hatte bis dahin 17 Jahre lang keinen Besuch in ihrem kleinen Hexenhaus gehabt. Sie würde gern noch mal am Usedomer Strand spazieren, erzählte sie Kerstin Müller. Das älteste Kino Deutschlands liegt gleich um die Ecke, 20 Jahre ist sie nicht dort gewesen. Nur: Mit wem? Im Regionalzug nach Hause beschloss Kerstin Müller, dass es so nicht weitergehen konnte. „Stell dir vor, du bist 90, ganz allein und hast noch einen Wunsch. Aber niemand hört dich. Ist das nicht ein gruseliger Gedanke?“

Seitdem fährt sie jeden Monat nach Magdeburg: Zieh dein schönstes Kleid an, Tante Inge, wir gehen ins beste Restaurant der Stadt!

Es muss Tausende wie Tante Inge geben, dachte Kerstin Müller. Mit ein paar Freunden gründete sie kurz nach diesem ersten Treffen die Initiative „Tante Inge“. Seitdem verkuppeln sie Alte mit Jungen.

Tausche Zeit gegen Erfahrung

Anna zum Beispiel. Die hatte in der Nachbarschaft ein Plakat entdeckt. „Tante Inge strickt“. Und weil sie, schwanger, mit den Fersen der Schühchen für das Kind in ihrem Bauch nicht vorwärtskam, ging sie zu dem Kennenlernnachmittag in das Neuköllner Seniorenheim, wo Anne-Marie, 80, nur sagte: Gib mal her. Jetzt hat die eine Socken und die andere ein Enkelkind. Oder Anne und Simone, Nachbarinnen, die ab und an einen Schnaps zusammen trinken, seit die Junge sich traute, die Alte anzusprechen.

Das macht man inzwischen so, in den Großstädten. Tausche Wohnung in Berlin-Mitte gegen Townhouse in Brooklyn. Tausche Bohrmaschine gegen Massage. Tausche Zeit gegen Erfahrung. Win-win.

Viele, die sich bei Kerstin Müller melden, kommen jedoch nie auf ein Date. Weil sie unsicher sind, wie sie mit dem Rollator ihres Tandempartners umgehen sollen oder mit dem Uringeruch im Seniorenheim.

Nadine hat gegen solche Ängste Mutmachsprüche: „Du kannst die Welt nicht verändern, aber besser machen“, ist einer davon. Wie aus einem Ratgeberbuch. Oder, dass es sie wenig koste, Jutta zum Lächeln zu bringen. Input, Output. Klingt kalkuliert. Aber wer sagt eigentlich, dass Helfen keine Kosten-Nutzen-Rechnung sein darf?

Wer hilft hier wem?

Nadine hat kein schlechtes Gewissen, wenn sie die Alte aus dem 4. Stock wieder allein lässt. Sie fühlt sich leicht, nicht schwer, wenn sie die S-Bahn nach Hause nimmt. Sie hadert nicht, weil sie sich mit Jutta vielleicht jemanden ins Leben geholt hat, um den sie bald trauern muss. Ein paar Freundinnen haben sie schon gewarnt.

Menschen werden aktiv, wenn sie erkennen, dass sie etwas verändern können. Nadine sieht, was sie getan hat, und nicht, was fehlt.

Und überhaupt: Wer hilft hier wem?

Kerstin Müller sagt, dass sie ruhiger wird, wenn sie neben Tante Inge sitzt. Dass ihr ihr Liebeskummer klein vorkommt gegen Tante Inges Erfahrungen: „Ich habe zwei Weltkriege überlebt, eine Diktatur, ich habe zwei Männer und mein eigenes Baby überlebt. Ich lache wieder.“

„Nadine, du hast ,Jenseits von Afrika‘ noch nicht gesehen? Musst du dir gleich ausleihen.“ Für schöne Bilder hatte Jutta immer einen Blick. Sie war schließlich Fotolaborantin, 30 Jahre arbeitete sie für Lothar Winkler, zog mit ihm nach München, wo er Freddy Quinn fotografierte. Und während hinter ihnen die Dementen brabbeln, erzählt Jutta von orangefarbenem und grünem Licht, von Kontaktabzügen, Bildausschnitten. Das kennt Nadine gar nicht. Analog trifft digital.

Nur Fotos, die kann sie nicht mehr vorzeigen. Die Entrümpelung, ja wer hat die eigentlich beauftragt? Jedenfalls ging das ziemlich schnell. Es hätte da schon noch so ein paar Sachen gegeben, die sie gern ein letztes Mal angeschaut hätte. „Ich könnte jetzt ein bisschen abheulen, aber es bringt ja nichts“. Lebt sie eben von den Erinnerungen.

Rodeln im Volkspark Schöneberg. Die Zeit vor der Scheidung. Einkaufstouren mit Schwester und Freundin und die Spaghetti beim Stammitaliener. Manchmal denkt sie auch an die Zeit, als sie allein war, schon Gleichgewichtsstörungen hatte. Manchmal kam der Sohn spontan vorbei, stellte einen Freund vor. Manchmal verbrachte sie eine ganze Sendung „Wer wird Millionär“ mit einer Freundin am Telefon. Es ist doch Antwort C!

Jetzt steht das Telefon zu weit weg vom Bett und bis Jutta es mit dem Rollstuhl erreicht, hat der Kandidat die Frage längst beantwortet. Dafür hat sie jetzt barrierefrei, keimfrei. Spaßfrei. „Nadine, schau doch nicht so skeptisch!“

Jutta redet, es muss ja für eine ganze Weile reichen. „Ich freue mich, dass Nadine mich für würdig befunden hat, mich kennenzulernen“, sagt sie. Nadine will jetzt einen festen Tag im Monat einrichten. „Du musst mir nichts versprechen“, sagt Jutta. „Ich kann dir das versprechen“, sagt Nadine.

Jeden Tag übt Jutta Volgmann am Geländer von Etage 4 das Gehen. Bis zum Sommer will sie laufen können. Dann können Nadine und sie in den Park.

Von drinnen nach draußen.

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