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Gang der Dinge. Direktorin Doris Unzeitig wartet seit Jahren auf eine Modernisierung der Türschließanlage.

© Mike Wolff

Gewalt an Berliner Schulen: Alleingelassen: Die Rektorin der Spreewald-Schule

Handgreifliche Väter. Mütter, die den Unterricht stören. Vandalismus. Die Spreewald-Grundschule in Berlin-Schöneberg hat sich Wachschützer zugelegt. Die Rektorin wird dafür angefeindet.

Die Jagd wird eröffnet an einem Donnerstag. Es ist der 1. März. Gerade haben ein paar Zeitungen berichtet, dass in einer Brennpunktschule in Berlin-Schöneberg ein Wachschutz eingesetzt werden soll. Uniformierte Männer eines privaten Sicherheitsdienstes sollen den Einlass kontrollieren und für Ordnung sorgen.

An diesem 1. März sitzt Doris Unzeitig in ihrem Büro und beantwortet Anfragen, denn das Stichwort „Wachschutz“ hat in der Öffentlichkeit Erinnerungen geweckt an einen Tag im März vor zwölf Jahren, als der Schulsenator Polizisten für die Befriedung der Neuköllner Rütli-Schule anforderte. Am Ende der Gewaltdebatte standen an 13 Neuköllner Schulen Sicherheitsleute vor den Türen. Acht von ihnen behielten den Wachschutz bis heute.

Seit dem 1. März vertrauen nun neun Schulen darauf – wenn auch die neunte, die Spreewald-Grundschule, nicht in Neukölln liegt, sondern im Schöneberger Norden, im Schatten des dortigen „Sozialpalastes“: Mehr als 95 Prozent der Eltern leben von Transferleistungen, noch höher ist der Anteil der Schulkinder aus Migrantenfamilien.

25 Gewaltvorfälle gab es in einem Jahr

Die Leiterin der Spreewald-Schule, Doris Unzeitig, sorgfältig geschminkt, blonder Pferdeschwanz, steht an diesem Donnerstag in ihrem roten Backsteinbau und erklärt mit österreichischem Akzent unermüdlich, warum sie den Wachschutz gerufen hat: 25 Gewaltvorfälle gab es in einem Jahr, also fast einer pro Woche.

Wechselseitige Morddrohungen sind darunter, auch tätliche Angriffe, nach denen der Sanitäter kam. Entscheidend aber ist, dass sich auf dem unübersichtlichen Gelände Schulfremde tummeln, Vandalismus überhand nimmt, dass Mütter oder Geschwister mitten im Unterricht in Klassenräume stürzen, dass Väter gegenüber Mitschülern ihrer Kinder und Pädagogen handgreiflich werden. 2017 war das Maß voll. „Wir mussten uns schützen“, sagt Unzeitig. Darum hat die Schulkonferenz beschlossen, dass ein Wachschutz her muss. Wie in Neukölln.

Es klingelt zur nächsten Stunde: Unzeitig ist Klassenlehrerin und muss los.

Es gibt ein paar Leute in der Stadt, die wollen gar nicht so genau wissen, warum die Schule einen Wachschutz zu brauchen glaubt. Schließlich hätten auch andere Grundschulen Gewaltprobleme. Noch bevor Unzeitig am Nachmittag ihre Sachen packt, ist für eine örtliche Sozialdemokratin der Fall glasklar: „Schulen sind oft auch Opfer ihrer Schulleitung. Just saying. Stichwort Spreewald Grundschule“, postet eine SPD-Verordnete um 15.48 Uhr auf Facebook.

Die Schule wartet auf eine neue Schließanlage. Seit 2012

Bislang ist es in Berlin nicht üblich gewesen, dass die seit 2001 regierenden Sozialdemokraten Schulleiter vorführen. Selbst Direktoren, die mehrfach durch die Schulinspektion fielen, deren Schulen kaum noch Schüler fanden, wurden nicht öffentlich angegriffen. Sie wurden auch nicht auf Facebook zur Jagd freigegeben.

Auch andere Genossen melden sich zu Wort, unter ihnen Jan Rauchfuß, SPD-Fraktionsvorsitzender in Tempelhof-Schöneberg: Unzeitig verkaufe den Wachschutz als pädagogische Maßnahme, wenn sie ihn mit Geld aus dem Bonusprogramm für Schulen im sozialen Brennpunkt finanziere, wetterte er im Anzeigenblatt „Berliner Woche“.

Was viele nicht wissen: Die Schule wartet seit 2012 auf eine Modernisierung der Schließanlage, denn das Sekretariat liegt im ersten Stock und man kann – mitten im sozialen Brennpunkt – nicht kontrollieren, wer reinkommt. Da der Bezirk kein Geld dafür übrig hatte, veranlasste die Schule Anfang 2017, dass 9500 Euro von ihrem Verfügungsfonds für eine Reparatur der Gegensprechanlage abgezweigt werden sollten. Nur folgte nichts daraus. Kein Bauarbeiter kam.

Das Rütli-Gespenst ist noch allgegenwärtig

„Das Bauamt hat auch landunter“, wirbt Schulstadtrat Oliver Schworck um Verständnis. Jetzt aber sei der Auftrag für die Reparatur erteilt. Auch Schworck äußerte sich auf Facebook. Als Unzeitig am Abend des 1. März auf dem Heimweg ist, schreibt der SPD-Mann, dass ein „plötzlich“ bestellter Wachschutz viele Nachfragen produziere. Plötzlich war das aber nur für jemanden, der etliche Schreiben der Rektorin und den entsprechenden Beschluss der Schulkonferenz nicht kannte.

Eine Woche später hält Doris Unzeitig einen dicken Stapel ausgedruckter E-Mails in den Händen. Sie legen Zeugnis ab von ihren Bemühungen, Schaden zu begrenzen. Sie hat nur eine Stunde geschlafen in der vergangenen Nacht, am nächsten Morgen will sie auf Klassenfahrt gehen, und vorher hat sie einen Auftrag zu erfüllen: Sie soll ihrem Dienstherren darlegen, was sie unternommen hat, um ihre Probleme zu lösen.

Denn das Rütli-Gespenst ist noch allgegenwärtig: Sollten die Verantwortlichen abermals die Not einer Schule ignoriert haben? Diesen Vorwurf will niemand gern lesen. Unzeitig muss sichten, wann wer welche Mail bekommen hat. Ausdrucken, sortieren. Bis morgens um fünf.

Wie einer Frau mit zu vielen Kindern

Dennoch sitzt die 48-Jährige am Morgen kerzengerade in ihrem Büro und erläutert unermüdlich die Historie. Demnach hatte sie ihre Vorgesetzten nicht nur in Bezug auf die Gegensprechanlage informiert, sondern auch in Sachen Wachschutz vorgewarnt: Schon im Herbst war der zuständige Schulrat von ihr gebeten worden herauszufinden, wie die Schule einen Sicherheitsdienst nach Neuköllner Vorbild finanzieren könnte.

Es gibt Menschen, die die Diskussion um den Wachschutz und Frau Unzeitig nicht verstehen. Zu ihnen gehört Hadia Mir, die langjährige afghanisch-stämmige Gesamtelternsprecherin der Schule. Sie fragt, warum der Stadtrat nicht besser informiert sei über die vielen Sicherheitsbemühungen der Schule und befürchtet, „dass Herr Schworck einfach zu viele Ämter hat und deshalb nicht richtig durchblickt: Jugend, Schule, Gesundheit“. Ihm gehe es wohl wie einer Frau, die zu viele Kinder habe: die Zeit reiche nicht für jedes einzelne.

Ein Brandbrief jagt den nächsten

Die Genossen haben es so gewollt: Die CDU sollte das Schulressort abgeben nach der Wahl im Herbst 2016, obwohl – oder weil – die vormalige Schulstadträtin mit dem Amt gut zurecht gekommen war. Schworck schien von Anfang an überfordert, was sich in aufbrausend-unwirschen Reaktionen auf Journalisten und Eltern zeigt. Umso härter für ihn, dass sein Jugendamt unter Personalmangel leidet.

Ein Brandbrief jagt den nächsten, vor den Lücken im Kinderschutz wird gewarnt. Es gebe da eine personelle „Abwärtsspirale“ diagnostiziert die SPD-Verordnete Marijke Höppner, die den Jugendhilfeausschuss leitet. Allerdings richtet sich ihre Kritik nicht gegen Schworck, der als Jugendstadtrat seit über sechs Jahren der politisch Verantwortliche ist. Eher regt sich Höppner über Unzeitig auf. In der SPD heißt es jetzt, sie lasse den Wachschutz „durch die Gänge patrouillieren gegen die eigenen Kinder“.

Besonders in Tempelhof-Schöneberg gibt es sehr starke sozialdemokratische Netzwerke , die sich auch in persönlichen, beruflichen und familiären Bezügen – generationenübergreifend – vielfach niederschlagen. Wer hier nicht dazugehört, hat schlechte Karten. Stallgeruch ist alles, und Leistung zählt doppelt, wenn man ihn hat. Wer nichts leistet, hat dennoch wenig zu befürchten, sofern er Teil des Netzwerks ist und dem Netzwerk dient. Wer aber Probleme hat und dabei keinen Stallgeruch, der ist schnell weg vom Fenster.

„Nomenklatura“, sagen die einen, „mafiös“ die anderen

Von einer Tempelhof-Schöneberger „Nomenklatura“ sprechen die einen, „mafiös“ nennen es andere. Da kann eine Schule an den Pranger kommen, weil sie ein Projekt oder einen freien Träger ablehnt, der zum Netzwerk gehört. Das war schon zu Beginn von Unzeitigs Amtszeit so, als sie einen neuen Träger für ihren Schulhort haben wollte. Einen ohne Stallgeruch.

Wenn andere Schulleiter durch ihre Schulen gehen, schimpfen sie gern über schlechte Reinigungsunternehmen. In der Spreewald-Schule ist es blitzblank: Unzeitigs Blick fällt auf sorgfältig aufgehängte Plakate der Schultheatergruppen. Ihr Vorvorgänger Erhard Laube hatte die Theaterbetonung extrem erfolgreich aufgebaut und bildungsbewusste Eltern auch damit angezogen, dass er Kinder mit guten Sprachkenntnissen in den Theaterklassen zusammenführte. Das war von Anfang an vielseitig beargwöhnt worden und brach nach seiner Beförderung in die Bildungsverwaltung ab.

Erst war Laubes Stelle vakant, die Nachfolgerin blieb nicht lange, wieder eine Vakanz. Dann kam Unzeitig und musste die Fäden wieder zusammenführen. Einen Teil der Theaterstunden packte sie in ein mit der Potsdamer Universität entwickeltes „Sprachförderband“, erzählt sie, während sie auf dem Flur Mohamed Akoush trifft: „Unser Islamlehrer.“ Im Vorübergehen diktiert der seine Telefonnummer. „Sie können mich gern anrufen“, sagt Akoush.

Es gab wohl öfters Streit

Erst am Tag zuvor hat ein Schöneberger Schulleiter auf Nachfrage gesagt, dass Unzeitig „falsch ist auf ihrem Posten“. Das merke man schon an der Sache mit dem Wachschutz. Überhaupt gehe sie „nicht wertschätzend mit migrantischen Eltern um“.

Also Anruf bei Herrn Akoush. Stimmt das? Nein, sagt der Islamlehrer. Unzeitig mache zwar klare Ansagen, aber das sei auch gut so, denn „manche Eltern brauchen Härte, die wollen wissen, wo es lang geht.“ Mit „mangelnder Wertschätzung“ habe das nichts zu tun, zumal Unzeitig auch den Islamunterricht sehr unterstütze. „Die Schule hat sich total verbessert, weil die Schulleiterin alles zugunsten der Kinder macht“, sagt Akoush. Er hat die Vakanzen nach Laubes Weggang miterlebt und weiß, was damals los war. Die Kinder sprächen jetzt besser Deutsch, seien pünktlicher geworden. Und der Wachschutz? Gut sei der, sagt Akoush. Die Lage habe sich beruhigt.

Im Schulinspektionsbericht ist zu lesen, dass eine „respektvolle Kommunikationskultur im gesamten Kollegium entwickelt werden muss.“ Es gab wohl öfters Streit. Aber das kommt an vielen Schulen vor. Ist noch was anderes im Spiel?

„Sie reißt sich ein Bein aus“

Vielleicht weiß es Martina Zander-Rade von den Grünen: Mit der SPD haben die Grünen hier im Bezirk eine Zählgemeinschaft. Die Mutter von drei Kindern kommt viel rum im Bezirk, kennt auch die Spreewald-Schule gut und leitet seit Langem den bezirklichen Schulausschuss. „Ich lasse auf Frau Unzeitig nichts kommen“, sagt Zander-Rade am Telefon. Vielleicht stimme da mitunter die Chemie nicht. Aber: „Unzeitig hat persönliche Autorität. Sie reißt sich ein Bein aus. Und sie macht das nicht für sich.“

Ob es doch noch etwas Schwerwiegendes gibt, was belegt, dass die Spreewald-Schule „Opfer“ ihrer Schulleitung ist, könnte in dieser Woche ans Licht kommen. Dann erhält Unzeitig Besuch von ihren Vorgesetzten. Wenn alles nach Plan läuft, werden sie durch den blitzsauberen Flur im ersten Stock gehen, vorbei an den gemütlichen Korbmöbeln mit den Sitzkissen und auf eine Frau treffen, die gerade eine Woche mit ihren Schülern auf Klassenfahrt gewesen ist und parallel versucht hat, einen kafkaesken Schriftverkehr zu rekonstruieren.

Wenn es gut läuft, wird man sie nach ihrer Kooperation mit der Uni Potsdam zum Sprachförderprojekt befragen oder zu ihren Problemen mit einem Jugendamt, das wegen Überlastung nur selten ans Telefon geht. Aber vielleicht will der Staatssekretär ja auch einfach nur nachvollziehen, wie es passieren konnte, dass eine Schulleiterin so lange nicht gehört wird, bis sie einen Wachschutz anheuert.

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