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Menschenleer. Heises Film „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ ist eine Collage aus Bildern, Tagebüchern und Geräuschen.

© GMfilms

Thomas Heise bei der Berlinale: Dokumentarfilmer mit Hang zur Grausamkeit

Thomas Heise gehörte schon in der DDR zu denen, die zu niemandem gehören. Nun hat er seine Familie porträtiert - und damit 100 Jahre deutscher Geschichte.

Die meisten Menschen wollen jemandem gefallen. Er nicht, noch nie. Nicht der eigenen Familie, schon gar nicht der DDR, nicht der Filmhochschule. Regisseure aber sind darauf angewiesen, anderen zu gefallen, zum Beispiel dem Publikum. In Thomas Heises hagerem Gesicht erscheint ein noch von Höflichkeit verdeckter renitenter Zug. Heißt soviel wie: Er lehne es grundsätzlich ab, seinen Beruf als Spezialfall der Prostitution zu betrachten.

Thomas Heise, geboren 1955 in Ost-Berlin, gehörte schon immer zu denen, die zu niemandem gehören. Und über die hat er dann seine Filme gemacht. Über Outsider aller Art. Das konnten mitunter ziemlich viele sein. Etwa die Menschenmassen vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, noch vor dem Mauerfall. Alle anderen Kameras richteten sich auf die Redner. Seine richtete sich vorzugsweise auf die Million Menschen, die zu niemandem mehr gehörte. Nicht mehr ins Gestern und noch nicht ins Morgen, kaum sich selbst, aber auch der DDR nicht mehr.

Um beim Filmen nicht von der Tribüne zu fallen, hatte sich Thomas Heise oben festgebunden. Er schaut immer in die Richtung, in die die anderen gerade wegschauen. Aber hat er das jemals so radikal gemacht wie in seinem neuen Film? Er heißt „Heimat ist ein Raum aus Zeit“. Es ist einer der Sätze, die man sofort versteht oder gar nicht.

Nicht jeder Gangleader schafft es bis in eine Akademie

Es sind dreieinhalb ebenso abseitige wie großartige Stunden über Menschen, die man eigentlich nie sieht und die auch nicht selber sprechen. Dafür sprechen die Bilder, vorzugsweise menschenleer. Und Heise liest dazu aus Briefen und Tagebüchern. Klingt nicht wirklich mehrheitsfähig, aber das ist kein Begriff, der auf Heises Sympathie rechnen dürfte. Und das Schöne an der Berlinale ist doch, dass auf ihr die Minderheiten temporäre Mehrheiten bilden dürfen.

Die Menschen, die Heise da über drei Stunden zitiert, gehören zu seiner Familie, es sind drei Generationen. Vom Berliner bürgerlichen Intellektuellen Wilhelm Heise, den das Erlebnis des Ersten Weltkriegs zum Kommunisten machte, über seine Eltern, Wolfgang Heise und seine Frau Rosemarie, bis hin zu ihm selbst und seinem Bruder. Beide hatte die Staatssicherheit einst so porträtiert: „Die Kinder traten als Initiatoren jugendlicher Banden in Erscheinung.“ Wo sie recht hatte, hatte sie recht.

Der einstige Bandengründer Thomas Heise steht im Foyer der Berliner Akademie der Künste, deren Mitglied er ist. Nicht jeder Gangleader, der zu niemandem gehört, auch nicht unbedingt zu seiner Familie, schafft es bis in eine Akademie. Aber jetzt missfällt sie ihm durchaus: Zu viele Stimmen von zu vielen Tischen. Heises Filme sind Hochkonzentrationsräume, „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ ist ein Hochkonzentrationsraum von der Länge eines halben Arbeitstages, aber diese Cafeteria ist offenkundig keiner. Also findet er ein anderes Foyer, kalt und zugig wie oft genug das Leben, aber still, absolut still.

Biermann schrieb das Totengedicht

Thomas Heises Vater war der Philosoph Wolfgang Heise. Im westlichen Teil dieses Landes herrscht bis heute die Auffassung, in der DDR habe es gar keine Philosophen gegeben, nur Professoren für marxistisch-leninistische Philosophie.

Natürlich gibt es überall viel mehr Philosophieprofessoren als Philosophen, falsch ist es trotzdem. Für Thomas Heises Vater, der schon 1987 starb, hat sein früherer Student Wolf Biermann das Totengedicht geschrieben. Es endet: Sein Herz blieb stehn aus Rebellion/ Er war mein DDR-Voltaire,/ Denn er durchschaute immer schon/ Auch seine eig'ne Illusion/ Ce qui touche le coeur.

Biermann hielt Wolfgang Heise für den „wahrscheinlich einzig richtigen Philosophen in der ganzen DDR“, was auch nicht stimmt, aber wahrscheinlich glaubte Biermann grundsätzlich nicht an von ihm unbemerkte Größe, schon gar nicht, nachdem er dem Land den Rücken gekehrt hatte. Er hätte Namen nennen können: Gerd Irrlitz etwa oder Lothar Kühne, beide allein an der Humboldt-Universität. Und Robert Havemann und Rudolf Bahro natürlich.

Kleine Söhne belegen keine „Faust“-Seminare

Wolf Biermann und Generationen von DDR-Studenten fanden in Wolfgang Heise ihren geistigen Vater, was in diesem Land doppelt zählte, denn die DDR war ebenso repressiv wie geistig berührbar. Das Denken traf sie noch direkt ins Herz. Aber ein Kind? Thomas Heise hätte schon ein einfacher Vater genügt. Aber die nächsten Angehörigen eines Philosophen sind seine Gedanken, natürlich. Kleine Söhne belegen keine zweijährigen „Faust“-Seminare oder Hölderlin-Vorlesungen. Schon das Leben ist ein falsches Format für einen Denker, und Katheder passen in kein Wohnzimmer. Dieser Mann blieb ihm fern, eben ein Philosoph, kein Vater.

Jahrgang 1955. Dokumentarfilmregisseur Thomas Heise.
Jahrgang 1955. Dokumentarfilmregisseur Thomas Heise.

© imago/Reiner Zensen

„Haben Sie bemerkt, wann er in meinem Film zum letzten Mal spricht, mit seinen eigenen Worten?“, fragt der Sohn. Es ist lange bevor Wolfgang Heise Professor wird. Es ist 1944, er ist 19 Jahre alt und in einem Zwangsarbeitslager für „jüdische Mischlinge“ bei Magdeburg interniert, denn „wehrwürdig“ ist der Sohn einer Wiener Jüdin und eines Berliner kommunistischen Intellektuellen nicht.

Der Neunzehnjährige schreibt an den Vater Wilhelm Heise, den die Nazis aus dem Schuldienst entließen: „Es ist das Kommende in allem Sein, das uns alle betrifft, so ungewiss.“ Klingt arg nach Hölderlin. Wie der junge Häftling schreibt nicht jeder mit neunzehn, aber Heise übersteht das Arbeitslager Zerbst mit Hölderlins „Hyperion“ in der Tasche, während der Lagerboden unter dem Bombenteppich auf Magdeburg vibriert, so viele Kilometer weit weg.

„Ich habe einen Kommunisten geheiratet!“

Vater und Sohn waren in den achtziger Jahren noch einmal dort, mit Thomas Heises Kamera, aber der Philosoph fand die Bilder nicht wieder, die noch immer in seinem Kopf waren. Der Film zeigt die richtigen Falschen von damals.

Der Vater freute sich über den Luftalarm, denn er ersparte ihm „Die Frau meiner Träume“ mit Marika Rökk ganz sehen zu müssen. Dieserart Kulturschaffen ertrug er schon damals nicht, über Kants Begriff des Schönen als des „interesselosen Wohlgefallens“ dagegen könnte er Jahrzehnte nachdenken, doch dann folgt die Notiz: „Manchmal quält mich das Abseitige dieser Probleme.“

Das also sind Wolfgang Heises letzte eigene Sätze in diesem nicht ganz kurzen Film. Das Misstrauen des Philosophen in das bloß Subjektive, in die einfache Emotion saß tief, oder sollte man offen von Verachtung sprechen? Und was macht der Sohn? Er erzählt die Geschichte dieser Intellektuellenfamilie über deren allersubjektivste Zeugnisse, auch die der Großeltern, Liebesbriefe und angefangene Ein-Satz-Selbstbiografien bevorzugt. Da ist etwa das fassungslose Resumee der bürgerlichen Wiener Jüdin: „Ich habe einen Kommunisten geheiratet!“ Aber auch Wilhelm Heise ist, paradox genug, ein Bürger.

Der Balkon glaubt nicht, dass sie geht

Also „Die Frau meiner Träume“ noch einmal, diesmal unentrinnbar? Thomas Heise jetzt anzuschauen, in diesem kalten, zugigen Foyer, heißt zu wissen, dass er weiß, dass der Vater ihm wohl kaum vergeben hätte. Oder doch? Vielleicht angesichts des Resultats?

Die heimliche Hauptperson in „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ ist jedoch nicht der Philosoph, es ist seine Frau. „Abgesehen davon, dass es in meinem Film keine Hauptpersonen gibt“, wirft der Regisseur ein, doch es klingt bereits leicht defensiv.

Künstler neigen zur Grausamkeit. Als seine Mutter – Voltaire-Übersetzerin, Benjamin-Herausgeberin, Redakteurin in der DDR – im Jahr 2014 ihre Wohnung nach langem Widerstreben verließ, dokumentierte er ihre letzten Tage zu Hause. „Es ist das Kommende in allem Sein, das uns alle betrifft, so ungewiss“, schrieb ihr Mann. Und dabei ist es leider egal, wie alt man ist. Lange Kamera-Blicke vom Balkon an der Schönhauser, den Rosemarie Heise nicht wiedersehen wird. Noch stehen Pflanzen drauf, wie all die Jahre zuvor. Der Balkon glaubt nicht, dass sie geht. Sie glaubt es auch nicht. Und dann übersteht sie das Heim, das fremde Sein, kaum drei Wochen.

Der Sohn aber macht Entdeckungen, mit denen er nicht gerechnet hatte: „Ich küsse deinen braunen Nacken. Udo.“ Das war ein Brief um 1950. Es folgt ein Telegramm an die junge Kommunistin Rosemarie: „Ich liebe Dich. Wir heiraten nächstes Jahr. Sofort schreiben. Udo.“

Ein Mercedes-Stern schaut aus dem Schnee

Wer um Himmels willen ist Udo?

Und Thomas Heise erfuhr: Ein junger Antikommunist West, Student der Rechte, der Mann, der – unter anderen – vor seinem Vater kam. In diesem Zwiegespräch sind flirrende Erotik und Politik oftmals kaum durch ein Komma getrennt und ersetzen doch ganze historische Abhandlungen.

Er: Diktatur des Proletariats sei Unfug, Ziel sei vielmehr der Weltstaat. Sie: Auf welcher Grundlage? Die ganze Politik des Abendlandes habe sich doch nicht „für 10 Pfennige“ geändert.

Rosemarie Heise hatte überlegt, ob sie das alles wegwerfen sollte oder wenigstens kommentieren wie Benjamins Baudelaire-Aufsatz. Weder noch, hatte sie in den Augen ihres Sohnes gelesen und nicht gewagt, die Ausrufezeichen hinter beiden Worten zu ignorieren.

Udo: Der Sowjetblock geht jetzt schon unter. Komm rüber! Wir kaufen uns einen gebrauchten Volkswagen!

An dieser Stelle schaut in Heises Film ein desillusionierter Mercedes-Stern aus dem Tiefschnee. Von der Art sind Heises Bildkommentare, meist jedoch viel verhaltener.

Wenn eine Erinnerung Christa Wolfs an Wolfgang Heise beginnt: „Ich weiß noch, dass wir an diesem Tag durch eine Tannenschonung gingen“, so zeigt der Sohn dazu ein großen Stapel geschlagener Baumstämme vor jungem Birkenhoffnungsgrün. „Haben Sie gesehen, dass die Stapel der toten Bäume die Form eines Mundes haben?“, fragt er. Thomas Heises Bilder sind Denk-Bilder, natürlich.

Alle glaubten, er habe eine Genehmigung

Christa Wolf und Wolfgang Heise begegneten sich 1968 bei einem Kuraufenthalt. Beider Physis hatte empfindlich auf den Dauertrotz ihrer Inhaber gegen die Partei- und Staatsführung der DDR reagiert. Heise weigerte sich konstant, für den Parteiausschluss von Robert Havemann zu stimmen. Was sollen wir tun, fragte Christa Wolf vor der Tannenschonung. Anständig bleiben, war Heises Antwort. Doch den Ausdruck erstarrten Ernstes in seinem Gesicht würde sie nie mehr vergessen.

Historiker sind natürlich auch professionelle Fälscher. Denn sie suggerieren, schon von Berufs wegen tatsachengläubig, die DDR sei das legitime Eigentum der SED gewesen, einer traumlosen Klasse von Arbeiterfunktionären im Machtrausch. Heise benennt dreieinhalb Stunden lang die Gegenzeugen. Er lotet mit größter Selbstverständlichkeit in eine Vergangenheit, deren Existenz viele bis heute bestreiten: die einer ganz eigenen, nicht kompromittierbaren geistigen Tradition des Ostens.

Auch sie gehört zur gesamtdeutschen Geschichte, vor Augen gestellt ausgerechnet von einem, der die DDR so gefilmt hatte, wie sie sich niemals sehen wollte: in Innenansichten eines verlorenen Landes. „Das Haus“ 1984 über das Bezirksamt Berlin-Mitte gelang ihm nur, weil alle glaubten, wenn er da drehe, habe er auch eine Genehmigung. Das war falsch. „Volkspolizei“ von 1985 – das frappierend offene Porträt einer Dienststelle – war von vornherein nur für interne „Forschungszwecke“ bestimmt.

Er hörte zu, kommentierte nicht

Was ihn am meisten interessierte aber war die DDR-Jugend, und zwar der Teil, der sich diese Bezeichnung strikt verbeten hätte: Aus-der-Zeit-Gefallene, Aus-dem-Land-Gefallene bei noch geschlossenen Grenzen. Und genau da machte der unerbittliche Chronist nach 1990 weiter.

Man nannte die Aus-der-Zeit-Gefallenen, die Aus-dem-Land-Gefallenen nun vorzugsweise Rechtsradikale. „Stau“ von 1992 über fünf Jugendliche aus Halle-Neustadt wurde wohl die bekannteste dieser Dokumentationen. Er hörte ihnen zu, gab ihren Geschichten Raum. Kein Kommentar. Diese Enthaltsamkeit ging manchem zu weit, aber sie macht den Wert seiner Filme aus.

Wahrscheinlich hat es Thomas Heise immer schon gestört, dass sein Vater die Subkultur, ästhetisch gesehen, als eine Form des Kitsches definierte. Heiner Müller, der die Utopie vom Grab her dachte, hätte das nie gesagt. „Der Künstler ist nicht jemand, der die Welt transkribiert – er ist ihr Rivale.“ Also sprach Müller. Also spricht jede Subkultur. Thomas Heise hatte Müller bei einem Bulgarienurlaub kennengelernt und ihn zu seinem Zweitvater ernannt, Einspruch war nicht vorgesehen. Auch einer von denen, die zu denen gehören, die zu niemandem gehören.

Keine Interviews, keine Zeitzeugen, natürlich nicht

„Was bleibet aber, stiften die Dichter“, glaubte Hölderlin. Und die Denker, insofern sie den Dichtern verwandt sind. Solche, die die Gegenwart verstehen als Begegnung von Vergangenheit und Zukunft. Und sie hören für Augenblicke, was die Gestrigen den Morgigen sagen. Und das sind in diesem Film zugleich einhundert Jahre deutsche Geschichte, vorzugsweise Geistesgeschichte.

Keine Interviews, keine Zeitzeugen, natürlich nicht. Keine Simulationen von Objektivität. Wer aus der DDR kommt, misstraut ihnen ohnehin. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ ist eine Meditation aus Bildern und Gedanken, der die Zeit doppelt zurückgibt, die er sich nimmt.

Und er ist noch etwas: Ein spätes Zwiegespräch der Generationen, von einer Zärtlichkeit kaum zu unterscheiden: „Wolfgangs Briefe aus dem Lager, das ist, was ich von ihm habe. Das ist Familie.“ Heimat also, ein Raum aus Zeit, vergänglich wie wir. Heise schaut sich um im leeren Foyer. Ein seltsames Gefühl, der Letzte zu sein. Und immer bleibt da ein Rest, der nicht aufgeht.

„Heimat ist ein Raum aus Zeit“ läuft im Forum der Berlinale. Vorführungen finden noch statt am Freitag, dem 15.2.2019, 15 Uhr im Arsenal 1 und am Sonntag, dem 17.2.2019, 17 Uhr im Cinemaxx 6.

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