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Kollaps. Rettungskräfte nach dem Einsturz.

© AFP

Unglück mit acht Toten: Wie in Marseille aus Trümmern Neues entsteht

Vor einem Jahr stürzten in Marseille Wohnhäuser ein. Die Wut über das Versagen der Behörden hat die Menschen zusammengeführt.

Am Morgen des 5. November 2018 brachte Ouloume Hassani, 54, alleinerziehende Mutter, ihren kleinen Sohn in die Schule. Dann ging sie eilig nach Hause in die Rue d’Aubagne Nummer 65, ihre Papiere holen. Sie wollte eine neue Wohnung suchen.

Um kurz vor neun verließ ein junger Algerier namens Rachid das gleiche Haus. Er wollte Zigaretten holen. Möglicherweise sind er und Ouloume Hassani sich an diesem Morgen vor einem Jahr im Hausflur begegnet. Als Rachid um 9.05 Uhr mit den Zigaretten aus der „Bar du Tabac“ trat, zerbröckelte das fünfstöckige Haus, in dem er wohnte, vor seinen Augen zu einem Berg aus Mauerstücken, Holzbalken, Dachziegeln.

Acht Menschen werden an diesem Morgen unter den Trümmern erdrückt. Zu ihnen gehört Ouloume Hassani.

Doch aus jenen Trümmern wuchs rasch etwas Neues: eine kultur- und klassenübergreifende, erst zornige, dann strategisch vorgehende Bürgerbewegung für menschenwürdige Wohnbedingungen und gegen die Modernisierungspolitik der Stadt, die zusieht, wie Häuser verfallen, sie irgendwann abreißen lässt und Baugenehmigungen für teure Neubauten erteilt. Oder sie gleich selbst bauen lässt.

Die Katastrophe hatte sich lange vorher angekündigt. Die Risse in den Wänden der Rue d’Aubagne Nummer 65 waren immer größer geworden, die Treppe abgesackt, die Eingangstüren der Wohnungen hatten sich verkeilt.
Trotz heruntergekommener Bausubstanz leben Künstler und Studierende gern im multikulturellen, mit Graffiti und Wandbildern geschmückten Viertel Noailles im Herzen von Marseille, das sich vom Hafenbecken den Hügel hinaufzieht bis zum lebendigen Platz Cours Julien. Für Menschen ohne Papiere und ohne Arbeitsplatz ist es oft die einzige Chance auf ein Dach über dem Kopf, hier eine Bruchbude zu horrendem Preis anzumieten.

"Es hat keinen interessiert"

„Ich hatte seit einem halben Jahr gesagt, dass dringend renoviert werden muss“, sagt die 25-jährige Sophie Dorbeaux mit leiser Stimme. „Ich habe E-Mails geschrieben, ich war persönlich bei der städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Es hat keinen interessiert.“

Sophie Dorbeaux ist Philosophiestudentin, sie sitzt an einem rotlackierten Bistrotisch vor dem Konzerthaus „Le Molotov“ am oberen Ende der Rue d’Aubagne und trinkt mit dessen Geschäftsführer Hazem El Moukkadem einen Tee.

Sie hat überlebt - weil sie Angst vor dem Haus hatte

Hazem El Moukkadem ist ein ruhiger bärtiger Mann mit Schiebermütze. In der Woche nach der Katastrophe sammelten er und sein Team mit Solidaritätskonzerten mehr als 10.000 Euro an Spenden, um die Betroffenen zu unterstützen. Von Anfang an war das „Molotov“ Planungszentrale nachbarschaftlicher Krisenhilfe, ein Jahr später ist es immer noch Ankerpunkt und Beratungsstelle für fast 4000 zwangsevakuierte Bewohner des Viertels.

Sophie Dorbeaux hat überlebt, weil sie in der Nacht vor dem Unglück bei ihren Eltern übernachtete – aus Angst vor dem Haus. Als sie es abends um sieben verließ, konnte sie die Tür ihres Appartements im fünften Stock nur noch mit Mühe öffnen, so sehr war die Statik des Gebäudes aus den Fugen.

Als Freunde Sophie anriefen, ob sie wohlauf sei, fuhr sie sofort zur abgesperrten Unglücksstelle. „Es war furchtbar. Überall Nachbarn mit ihren Habseligkeiten, die Räumfahrzeuge der Feuerwehr und dieser riesige Schutthaufen. Und dann diese Krisenpsychologin, die immer sagte: ‚Nein, Sie irren sich. In diesem Haus lebten keine Menschen mehr.’ Die hatten keinen Plan, totales Chaos.“ Dabei lag ihre Nachbarin und Freundin Marie unter den Trümmern.

„Es war der Regen“, sagte der greise republikanische Oberbürgermeister Jean-Claude Gaudin, als er vom Einsturz erfuhr. Er ließ 350 Menschen aus der Rue d’Aubagne oberhalb der Unglücksstelle umgehend zwangsevakuieren. Sie bekamen 15, maximal 20 Minuten, um das Nötigste zusammenzuraffen.

Sperrzonen. Lebensgefahr

Später wurden weitere 3500 Bewohner von Noailles aus baufälligen Häusern ausquartiert, Haustüren mit dicken Ketten und amtlichen Schlössern versiegelt. Ganze Straßenzüge, in denen Außenmauern bröckeln oder 200 Jahre alte Häuser eine verdächtige Wölbung nach außen zeigen, verrammelte die Marseiller Feuerwehr mit Absperrgittern. Wo gerade noch Nachbarskinder auf dem Kopfsteinpflaster gespielt hatten und Touristen spazierten, waren nun Sperrzonen. Lebensgefahr.

Dass Bürgermeister Gaudin den Regen verantwortlich machen wollte, war vielen im Viertel ein weiterer Beweis für die jahrelange Missachtung der Ärmsten der Stadt. Während die Stadtoberen weder den Hinterbliebenen kondolierten noch die über die ganze Stadt verstreuten Zwangsevakuierten über Hilfsangebote informierten, schufen Nachbarn eine Gedenkstätte: Unterhalb des mit schweren Gittern abgesperrten Mittelstücks der Straße erinnert ein blumengeschmücktes Fotoplakat an die acht Toten aus Italien, Peru, Tunesien, von den Komoren, aus Senegal und Frankreich.

Begegnungsorte für zwangsevakuierte Familie

Seit einem Jahr bewachen Securityleute rund um die Uhr die Unglücksstelle, die nachts gleißend hell angestrahlt wird. Eine Präzisionskamera am gegenüberliegenden Haus kontrolliert, ob die Häuserzeile hangaufwärts stabil bleibt.

Nachbarin Laura Aspic, 34, wohnt in einer Querstraße direkt unterhalb. Sie hat das Erinnerungsplakat gebastelt und das Kollektiv „5. Juni – Noailles in Wut, Noailles steht aufrecht“ mitbegründet, ein Netzwerk aus Nachbarn und Unterstützern. Sie schaffen Begegnungsorte für die zwangsevakuierten Familien, die in nahe Hotelzimmer oder in Notunterkünfte über die gesamte Stadt verteilt worden waren.

Viele Anwohner können immer noch nicht in ihre Häuser zurück.
Viele Anwohner können immer noch nicht in ihre Häuser zurück.

© AFP/Gerard Julien

Die junge Frau in Jeans und schwarzem Rollkragenpulli weist durch ihr Schlafzimmerfenster zur klaffenden Lücke hinüber, wo das Haus Nummer 65 und dessen Nachbarhäuser standen. Den Lärm, mit dem die Gebäude zusammenbrachen, werde sie nie vergessen, sagt sie. „Das war keine unvorhersehbare Naturkatastrophe, es war ein Verbrechen.“

Auch nach einem Jahr ist Laura Aspic unvermindert zornig auf die städtische Hausverwaltungsgesellschaft, auf die Eigentümer der Wohnungen – einer von ihnen ein republikanischer Abgeordneter. „Die Bewohner der Nummer 65 wurden knapp drei Wochen vor dem Unglück wegen Absenkung der Treppe gefahrenhalber evakuiert. Doch die Feuerwehr hat sie nach der Begutachtung des Hauses wieder in ihre Wohnungen zurückgeschickt.“ Es bestehe keine Gefahr.

Ab 14 Uhr ist Krisensprechstunde

Sophie Dorbeaux hat nach einer längeren psychischen Krise ihr Studium wieder aufgenommen, seit kurzem wohnt sie wieder im Noailles-Viertel, „nur drei Minuten entfernt von meinem alten Zuhause“. Sie sagt: „Es tut gut, wieder hier zu sein, aber die kaputten Häuser machen mir auch Angst.“

Im „Molotov“ kommt sie insbesondere montags gern vorbei, dann findet in der schwarzgestrichenen Bar ehrenamtliche Beratung statt: Ab 14 Uhr ist auf den roten Kunstlederbänken Krisensprechstunde, 18 Marseiller Psychologen und Psychologinnen bieten sie an. Ab 15 Uhr beraten sozialrechtsbeschlagene Gewerkschafterinnen zu Anträgen beim Sozialamt auf Ersatzkleidung, auf Marken für den Waschsalon und Nahverkehrstickets. Und dabei, was zu tun ist, wenn ein bisheriger Vermieter sich weigert, die Ersatzunterkunft zu zahlen – was laut der „Charta für Zwangsevakuierte“ seine Pflicht ist.

"Das Stadtzentrum gehört allen"

Die Rechte und Ansprüche der 4000 aus Noailles Vertriebenen haben Marseiller Rechtsanwälte mit Initiativen von Unterstützern ausgearbeitet, mehr als 10.000 Marseiller Bürger unterschrieben die zugehörige Petition, woraufhin Bürgermeister Gaudin jene Charta Anfang Juli ratifizieren musste. „Verfallen lassen, abreißen, neu bauen für Besserverdienende, die Armen an den Rand der Stadt“ – das sei seit Jahren die Gentrifizierungsstrategie Gaudins für die Innenstadt, kritisiert ein Mitglied der Initiative „Das Stadtzentrum gehört allen“. Damit soll jetzt Schluss sein.

Mit der Abenddämmerung um 17 Uhr ist Schichtwechsel vor dem „Molotov“: Junge Juristen in feinem Zwirn beraten Zwangsevakuierte persönlich – zum Beispiel Mael Chamberlein, der mit seiner kleinen Tochter Lenaïg geduldig wartet. Der Heizungsbau-Ingenieur wohnte in der Rue d’Aubagne Nr. 69. Er hatte die Kleine an jenem Morgen vor einem Jahr gerade in die Krippe gefahren. Seine Frau war da schon in einer Grundschule bei der Arbeit.

Eine halbe Stunde später fielen die Häuser Nummer 63 und 65 zusammen, bei der Suche nach den Verschütteten stürzte nachts auch die 67 ein. Einen Tag später entschieden Feuerwehrleute, die oberen Stockwerke der Nummer 69 abzutragen, damit sie ihnen bei der Bergung der Leichen nicht auf den Kopf fällt. „Ich konnte von unten zuschauen, wie sie unser Zuhause zerstörten“, sagt Mael Chamberlein. „Da gehst du morgens aus dem Haus – und einen Abend später stehst du vor dem Nichts. Wir haben kein einziges Familienfoto mehr. Aber das Schlimmste ist: Die Bank forderte jeden Monat Raten für eine Wohnung von uns, die es gar nicht mehr gibt.“

Das Viertel gleicht teilweise einer Sperrzone.
Das Viertel gleicht teilweise einer Sperrzone.

© AFP/Gerard Julien

Seit dem Unglück hat die Familie ein Nomadenleben bei Freunden geführt, weil ihnen als Wohnungseigentümern – im Gegensatz zu den obdachlos gewordenen Mietern – kein kostenloser Ersatzwohnraum zustand.

An diesem Abend im „Molotov“ erfährt Mael Chamberlein von seiner Anwältin: Die Ratenzahlungen für die Wohnung dürfen zwei Jahre lang ausgesetzt werden – bis gerichtlich geklärt ist, ob der Hausbesitzer oder die Stadt die Verantwortung für den Verlust übernimmt.

500 Meter unterhalb des „Molotov“, in einer Querstraße der Rue d’Aubagne, steht Chamouine Wathik, 35, hinter seinem Ladentisch zwischen Handyzubehör, Haushaltselektronik und Dekoartikeln. Auch hier sind viele Häuser verfallen. Am 5. November 2018 gegen Viertel nach neun breitete sich vor dem Laden des komorischen Einwanderers eine riesige Staubwolke aus, Nachbarn eilten herein und berichteten vom Einsturz. Wathik sagt: „Die Nachricht traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.“

"Mein Haus macht mir Angst"

Tags zuvor habe seine Landsfrau Ouloume Hassani ihn gebeten: „Bitte hilf mir, ein anderes Apartment zu finden. Mein Haus macht mir Angst.“ Wathik schickte sie fort. „Weil ich zu viele Kunden im Laden hatte.“ Er habe ihr gesagt, sie solle am Montag wiederkommen. Dem Tag, an dem Haus einstürzte.

Seit Wathik vor zehn Jahren als Student von einer kleinen komorischen Insel in die große laute Hafenstadt gekommen war, hatte Ouloume Hassani ihm jeden Mittag traditionelles Essen vorbei gebracht. „Wieder und wieder versuchte ich sie anzurufen. Aber ihr Handy war aus.“ Wathik schaut zu Boden. „Ich habe sie im Stich gelassen, als sie mich brauchte.“

Der Schock als kollektive Kraft

Hazem El Moukaddem, der „Molotov“-Geschäftsführer, steht auf. Höchste Zeit, die Bühne fürs abendliche Konzert einzuleuchten. Er schiebt den Rollladen seines Konzertschuppens nach oben. Was sich für ihn persönlich und politisch durch das letzte Jahr verändert hat? „Ich glaube nicht mehr an die Mobilisierung von Massen für eine politische Idee, sondern an das konkrete Tun in kleinen Gruppen“, sagt er. „Der Einsturz der Häuser hat uns alle seelisch erschüttert. Aber es ist uns gelungen, den Schock in eine kollektive Kraft zu verwandeln.“

Sich öffentlich gegen die städtischen Wohnbaugesellschaften Soleam und Marseille Habitat zu wenden, kann in einer Stadt wie Marseille gefährlich werden. Kurz nach dem ersten von ihm organisierten Soli- und Spendenkonzert sprach ein Mann Hazem El Moukaddem im Dunkeln auf der Straße an und riet ihm, „lieber keine kritischen Mikrofonansagen mehr zu machen, wenn dir dein Laden lieb ist“.

Gemeinsam mit anderen Nachbarn hat er den Jahrestag des Unglücks vorbereitet: Acht Glockenschläge um fünf nach neun, acht Gedenkminuten, ein Nachbarschaftsbankett und die Taufe des kleinen Platzes unterhalb der Unglücksstelle auf den Namen „Platz des 5. November“. Am Tag darauf ein Fest der Überlebenden auf den Straßen von Noailles. Aufgeben ist für Hazem El Moukaddem keine Option. „Wir kämpfen dafür, dass alle Zwangsevakuierten ihr Recht bekommen – und wenn das fünf oder sechs Jahre dauert.“

Annette Wagner

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