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Eine Seite aus „Von Mäusen und Menschen“.

© Splitter

„Von Mäusen und Menschen“ als Graphic Novel: Amerikanischer Albtraum im Bilderrausch

Die Illustratorin Rebecca Dautremer macht sich den Roman „Von Mäusen und Menschen“ zu eigen. Entstanden ist dabei ein zeitloses Stück grafischer Literatur.  

Von Heike Byn

1937 pulverisierte der spätere Literaturnobelpreisträger John Steinbeck mit seiner Novelle „Von Mäusen und Menschen“ den utopischen „American Dream“. Es ist die die Geschichte der beiden Erntehelfer George Milton und Lennie Small, die im von der Wirtschaftskrise gebeutelten Amerika von Job zu Job ziehen und vom Leben auf einer eigenen Farm träumen. Und es ist auch eine Geschichte über Freundschaft und Hoffnung: Der kluge George will dort eine Zuflucht für Lennie finden, seinen Freund aus Kindertagen – ein geistig zurückgebliebener „süßer unschuldiger Koloss mit gefährlichen Händen“.

Natürlich wartet am brutalen, unglücklichen Ende kein besserer Ort auf die Freunde, nirgends. Denn es ist auch eine Geschichte von der Grausamkeit der Menschen, vom gnadenlosen Kampf ums Überleben und von der Ausbeutung billiger Arbeitskräfte und rechteloser Schwarzer. Keiner traut dem anderen, das Miteinander ist geprägt von Angst, schwelender Gewalt und Rassismus. Themen, die sich auch im Amerika von heute widerspiegeln.

Eine Seite aus „Von Mäusen und Menschen“.
Eine Seite aus „Von Mäusen und Menschen“.

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Es ist immer ein Risiko, einen Klassiker der Weltliteratur zu adaptieren. Andererseits sind Herausforderungen Rébecca Dautremers Spezialität. Seit einem Vierteljahrhundert arbeitet die Französin schon als Illustratorin oder auch Autorin. Hauptsächlich für Kinder und Jugendliche, immer wieder auch mal für Erwachsene. Ihr erstes Kinderbuch veröffentlichte sie 1996, sieben Jahre später erhielt sie für das Bilderbuch „L’amoureux“ (Languereau, 2003) ihren ersten Preis, viele weitere folgten.

Von Projekt zu Projekt ist sie mutiger geworden, ihr Stil unverwechselbarer. So zeigte sie in ihren Bildern zu Philippe Lechermeiers etwas anderem „Prinzessinnen“-Kompendium (cbj, 2008) klischeesprengende, verwegene oder verträumte junge Blaublüterinnen. Zuletzt beeindruckte sie mit tiefgründigen Illustrationen zu Philippe Lechermeiers Nacherzählung der „Bibel“ (Coppenrath, 2014).

Sog der Bilder

Auch mit ihrer kühnen Bilderwelt zu John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ (Splitter, 424 S., 49,80 €) bleibt Rébecca Dautremer unverkennbar sie selbst. Wer dieses in jeder Hinsicht schwergewichtige Werk einmal in die Hand nimmt, kann sich dem Sog der Bilder, dieser weit über eine Adaption hinausgehenden grafischen Inszenierung nicht mehr entziehen. Alles ist analog, alles in reiner Handarbeit entstanden.

Nicht, dass sie einfach nur Steinbecks ungekürzte Fassung illustriert. Nein, sie transponiert den Text in ihr Alphabet. Man kann auch nur die Illustrationen „lesen“ – und ist doch über die Story bestens im Bilde.

Text-Bild-Kombination: John Steinbecks Texte sind bei dieser Adaption Teil der Illustrationen.
Text-Bild-Kombination: John Steinbecks Texte sind bei dieser Adaption Teil der Illustrationen.

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Dautremers Illustrationen stehen nicht einfach über, unter oder neben Steinbecks Text; sie spielen damit, verleihen ihm eine neue visuelle Dimension. Ausdrucksstarke Bilderfolgen mit Rötelzeichnungen der Personen untermalen nicht nur die Steinbeck-typische Dialogstruktur.

Sie offenbaren dabei die ganze Tiefe der Gefühle, die sich hinter scheinbar banalen Gesprächen verbergen. Landschaftsaquarelle in entsättigten Farbtönen konterkarieren die Beschreibungen einer friedlichen Natur und zeigen Kalifornien als ein Universum der Einsamkeit, ohne auch nur einen Hauch vom Mythos des „Wilden Westens“.

Was für eine Fülle an Bildtechniken, Farben und Formaten! Mehr als 200 Doppelseiten mit Aquarellbildern wechseln sich mit Gouachen und Buntstiftzeichnungen ab. Dabei entstehen verschiedene gezeichnete Ebenen: durch naturalistische Zeichnungen, die wie alte Fotografien aussehen oder sparsam kolorierte Zeichnungen im Gewand von Skizzen, Vorzeichnungen.

Visuelle Codes der 1930er Jahre: Eine von klassischen Zeitungs-Comics inspirierte Seite.
Visuelle Codes der 1930er Jahre: Eine von klassischen Zeitungs-Comics inspirierte Seite.

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Dazu bedient sich Dautremer bei den visuellen Codes der 1930er-Jahre mit ihren typischen Comics, Karikaturen, Werbe- und Filmplakaten: Szenen verdichten sich in Filmplakaten, eine Gewaltfantasie gegen den konfliktfreudigen Sohn des Farmers findet ihre visuelle Entsprechung in einer Anti-Kakerlaken-Werbung.

Immer wieder geht es dabei auch um Traum und Realität. Die Gedanken, Erinnerungen und Träume der Charaktere materialisieren sich in skizzenhaften, federleichten und übereinander liegenden Ebenen. Sie erinnern an die Überblendungen aus Fotografie und Film.

Das Titelbild des besprochenen Bandes.
Das Titelbild des besprochenen Bandes.

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Dautremer unternimmt einen Ritt durch die Kunstgeschichte: expressionistisch verzerrte Gesichter, kubistisch anmutende Personentableaus; Art brut, die auf Fotorealismus trifft, detailgenaue Tierstilleben von Kaninchen, Hunden und – na klar – Mäusen. Gleich daneben konfrontiert Dautremer ihr Publikum mit Cartoons von traurigen, lädierten und bis ins Surreale verzerrten Nagern und einer sterbenden Micky Maus.

Auf den über 400 Seiten zeigt sich die ganze grafische Reife, die Fülle des Talents der Ausnahmekünstlerin mit ganz eigener Ästhetik. Im aufschlussreichen Nachwort ist zu lesen: „Da sich die Kommunikation mit den 1930er-Jahren als verwirrend erwies, machte Rébecca Dautremer schließlich, was sie wollte.“ Gut so. Denn damit hat sie am Ende ein zeitloses Stück grafischer (Welt-)Literatur geschaffen.

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