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Serien und Telenovelas sprechen in Lateinamerika breite Bevölkerungsschichten an.

© Illustration: Nienke Schellinkhout Diaz (Montage Tagesspiegel)

Weit mehr als nur Unterhaltung : Fernsehserien im Fokus der Wissenschaft

Wie lateinamerikanische Telenovelas politische Einstellungen und Geschichtsbewusstsein prägen.

Streamingdienste wie Netflix und Co zählen aktuell zu den wichtigsten Unterhaltungsmedien weltweit. Doch schon lange vor den digitalen Diensten gehörten Serien und Telenovelas zu den wichtigsten Sendeformaten des analogen Fernsehens.

Der weltweite Siegeszug der Telenovelas begann ursprünglich in Lateinamerika, wo sie seit den 1950er-Jahren im TV zu sehen waren. Seitdem gehören sie zum Kulturgut des Kontinents. Lateinamerikanische Telenovelas erreichen alle Gesellschaftsschichten: Sie werden täglich zur festen Zeit gesendet und häufig mit der ganzen Familie geschaut. Sie sind nicht nur Unterhaltung, sondern oft auch die wichtigste Informationsquelle über die Geschichte oder Politik eines Landes.

Konflikte, Unrecht, soziale Ungleichheit: Gegensätze spielen eine Rolle

Ein Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin befasst sich deshalb mit der Frage, wie Telenovelas und Serien in Lateinamerika die politischen Einstellungen und das Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung prägen. Das vom Bundesforschungsministerium geförderte Projekt „Geschichtsvermittlung durch Unterhaltungsmedien in Lateinamerika. Labor für Erinnerungsforschung und digitale Methoden“ (GUMELAB) ist am Lateinamerika-Institut angesiedelt und wird vom Geschichtsprofessor Stefan Rinke und der promovierten Historikerin Mónika Contreras Saiz geleitet. In Berlin arbeiten vier Forschende im GUMELAB. Hinzu kommen Kooperationspartner an Forschungseinrichtungen in Kolumbien, Chile, Brasilien, USA und Deutschland – darunter Forschende der Medien- und Kommunikationswissenschaften, der Politikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Anthropologie und Physik.

Telenovelas seien in den Ländern Lateinamerikas so beliebt, weil es ihnen gelinge, „Identifikation und Repräsentation zu schaffen“, sagt Mónika Contreras Saiz. Breite Bevölkerungsschichten fühlten sich angesprochen. Fast jede Telenovela beginne mit einem Konflikt, einer Ungerechtigkeit. Im Mittelpunkt stehe oft auch eine Liebesbeziehung der Hauptfigur und soziale Ungleichheit. Gegensätze wie Arm und Reich, Gut und Böse spielten eine Rolle. Und im Laufe des Melodrams werde der Konflikt gelöst.

„Telenovelas greifen aber auch Themen auf, die im Schulunterricht nicht behandelt werden“, sagt Mónika Contreras Saiz. Als Beispiel nennt sie die jahrzehntelange Militärdiktatur in Chile unter Augusto Pinochet. In den Familien werde über dieses schmerzhafte Kapitel oft nicht frei gesprochen. Viele junge Menschen in Chile erführen erstmals über Telenovelas wie „Los 80“ über die Menschenrechtsverletzungen, die Morde und die Opfer der Diktatur.

Auch Themen wie Migration oder Femizide spielten in Telenovelas eine Rolle. Ebenso sei der mehr als 50 Jahre andauernde bewaffnete Konflikt in Kolumbien zwischen Guerilla-Gruppen, Paramilitärs und Drogenkartellen der Erzählstoff von reichweitenstarken Serien wie „Pablo Escobar, el Patrón del Mal“. Über die Netflix-Serie „Narcos“ erreicht das Thema inzwischen auch ein Publikum weltweit.

Telenovelas bieten gesellschaftliche Chancen – aber auch Risiken

Von den Hunderten lateinamerikanischen Telenovelas und Serien interessiert sich GUMELAB besonders für solche, die sich mit traumatischen Themen der jüngeren Geschichte Lateinamerikas befassen. Mónika Contreras Saiz sieht Chancen und Risiken in der Wirkkraft der Serien und Telenovelas. Kritisch sei, wenn in den Filmen Täter zur Hauptfigur würden, während die Perspektive der Opfer nur in Nebenrollen gezeigt werde.

Das Filmgenre kann auch Empathie für Kriminelle wie den Drogenboss Pablo Escobar schaffen und Taten rechtfertigen. Telenovelas können zudem dazu beitragen, Stereotype zu verstärken – etwa wenn in den Filmen Studierende von öffentlichen Universitäten Lateinamerikas mit Linksextremismus oder Guerilleros und Guerilleras in Verbindung gebracht würden. Zu den großen Chancen gehöre eben, dass Telenovelas oft zum ersten Mal Dinge thematisieren, über die bis dahin geschwiegen wurde, und die Menschen dadurch etwas über die Vergangenheit lernen.

Die Forschenden des GUMELAB-Projekts erarbeiten deshalb Strategien zum kritischen Medienkonsum. Entwickelt werden unter anderem Handlungsempfehlungen für Regisseure und Drehbuchautoren. Die Forschenden wurden auch zum größten Branchentreff der spanischsprachigen Filmindustrie nach Madrid eingeladen, weil Filmschaffende von der Wissenschaft lernen wollten.

Im Rahmen von GUMELAB finden darüber hinaus sogenannte Dialogreisen statt, bei denen sich Forschende mit Schülerinnen und Schülern, Kunstschaffenden, ehemaligen Obdachlosen und anderen Personen vor Ort in Chile oder Kolumbien austauschen. Gemeinsam werden Ausschnitte von Telenovelas geschaut und diskutiert, die lokale geschichtliche und politische Ereignisse aufgreifen. Die Resonanz sei durchweg positiv, erzählt Mónika Contreras Saiz: „Wir lernen gemeinsam viel mehr über soziale Prozesse, die nicht vollständig in den Telenovelas und Serien dargestellt sind“ – und umgekehrt gelinge es, abseits des universitären Kontextes für kritischen Medienkonsum zu sensibilisieren.

Für den Inhalt dieses Beitrags ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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