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Panorama: Atom-U-Boot in Not: Scheinriese Russland (Kommentar)

Des Kaisers neue Kleider - auf Russisch: Seit einem Jahr arbeitet Wladimir Putin am neuen Outfit für die einstige Supermacht. Putin als Fallschirmspringer, Putin auf einem Atom-U-Boot beim Test einer Interkontinental-Rakete, Putin als oberster Inspekteur an der tschetschenischen Front.

Des Kaisers neue Kleider - auf Russisch: Seit einem Jahr arbeitet Wladimir Putin am neuen Outfit für die einstige Supermacht. Putin als Fallschirmspringer, Putin auf einem Atom-U-Boot beim Test einer Interkontinental-Rakete, Putin als oberster Inspekteur an der tschetschenischen Front. Mit Russlands Streitkräften, so seine Botschaft, ist wieder zu rechnen, die Supermacht ist auf dem Weg zu alter Stärke und wünscht mitzureden in der Weltpolitik. Viele haben ihm das abgenommen, die nach Stolz und Anerkennung dürstenden Bürger im Inland sowieso, aber auch im Ausland war man ziemlich beeindruckt.

Und nun die Havarie der "Kursk". Sie wirkt wie das Kind im Märchen, das das Spiel der Erwachsenen nicht mitmacht, sondern sagt, was es sieht: Der Kaiser ist nackt.

Das U-Boot am Grund der Barentssee wirkt militärstrategisch wie Mathias Rusts Kreml-Flug - und, was den Glauben an die Beherrschung von Technik und Umweltrisiken angeht, wie ein zweites Tschernobyl. Bis Rust am 28. Mai 1987 unter allen Radarkontrollen hinwegtauchte und nach mehreren Stunden unbemerkten Flugs über russisches Gebiet auf dem Roten Platz landete, eilte der Sowjetarmee der Ruf einer erdrückenden militärischen Übermacht voraus. Die "Cessna" vor der Basilius-Kathedrale düpierte die Luftabwehr: So wie Rust hätte jeder feindliche Agent auf Schussentfernung an den Kreml herankommen können.

Der erste Tschetschenienkrieg hat die Schlagkraft der Armee in Frage gestellt, im zweiten ergeht es Moskaus Streitkräften nur wenig besser. Und nun weckt das Unglück der "Kursk" Zweifel an der Zweitschlag-Kapazität. Sie ist die Überlebensgarantie in der atomaren Abschreckungslogik. Die strategische U-Boot-Flotte ist - wenn sie funktioniert - beweglich und schwer zu orten. Im Gegensatz zu den landgestützten Raketen kann ein Gegner kaum hoffen, sie mit einem Erstschlag zu zerstören, sondern muss mit einem vernichtenden Gegenschlag rechnen - das soll ihn vom Angriff abschrecken. Doch da zeigt sich nun eine Lücke.

Mit der Berichterstattung über die Havarie dringt zudem ins breitere Bewusstsein, worüber sonst nur Militärexperten diskutieren: Auch beim Rüstungswettlauf unter Wasser ist Russland den USA hoffnungslos unterlegen. Erst die Luftabwehr, dann die Armee, nun die strategische Flotte: Wie weit ist überhaupt noch Verlass auf Moskaus Militärapparat?

Und wie weit auf das technische Vermögen Russlands? Die Weltraumstation "Mir" ein Wrack, die Kernkraftwerke tickende Zeitbomben, viele Flüsse Sibiriens durch lecke Öl-Pipelines verseucht, und jetzt geht eines der modernsten Boote verloren - kein morscher Kahn, sondern die 1994 gebaute "Kursk". Hat es eine Explosion im Kernreaktor an Bord gegeben? Droht eine Kernschmelze? Plötzlich nimmt die Welt auch Kenntnis von dem "Tschernobyl in Zeitlupe" im Nordmeer: Seit Jahren warnen der ehemalige russische U-Boot-Kapitän Alexander Nikitin und die norwegische Umweltschutzgruppe "Bellona" vor den rund hundert ausrangierten Atom-U-Booten, die ungeschützt in Murmansk und anderswo vor sich hin rosten. Russland - doch ein Dritte-Welt-Land, nur eben mit Atomraketen? Da helfen dann auch postsowjetische Propaganda-Methoden nicht mehr weiter. Am Sonntag versuchte die Marine, das Unglück geheim zu halten; am Montag wurde die Schuld nach dem Muster alter Verschwörungstheorien bei einem ausländischen U-Boot gesucht, das die "Kursk" gerammt habe.

War das also Wladimir Putins eigentliche Leistung bisher: dass er in nur einem Jahr den Anblick Russlands verändert hat, dass er die Bilder vom Scheinriesen und der Operetten-Supermacht, die in der Stagnation der letzten Jelzin-Jahre aufgekommen waren, verdrängte? War es womöglich nur eine modernere Kostümierung?

Das Bedrückendste an der Desillusionierung über die russische Militärmacht ist indes nicht strategischer, es ist menschlicher Natur. Offenkundig haben die Konstrukteure der "Kursk" nicht besonders viel Wert darauf gelegt, dass die U-Boot-Mannschaft im Unglücksfall gerettet werden kann. Die Männer, die da unten am Meeresgrund Klopfzeichen geben, sie sind die kleinen Opfer des russischen Größenwahns.

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