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Panorama: Der vergessene Aufstand

„Aktion Ungeziefer“ – vor 60 Jahren wurden zehntausende Menschen von der DDR-Führung zwangsumgesiedelt. Nur ein kleines Dorf in Thüringen wehrte sich.

Die Lastwagen kamen leise. Niemand sollte sie hören. Es war tiefe Nacht. Mit den Lastwagen kamen Volkspolizisten, die einen Auftrag hatten.

Um drei Uhr 30 standen sie krachend im Hausflur der Familie Bauer. Vor den Eltern und ihren halbwüchsigen Zwillingssöhnen. Die Polizisten zeigten den erschreckten Erwachsenen im Schein von Taschenlampen mehrere Schriftstücke, die sie nicht erklärten. Dann nahmen sie ihnen die Ausweise ab. Jene Papiere, in die Wochen zuvor bereits der Stempel „Sperrzone“ geknallt worden war.

Man sagte den Eltern, dass sie innerhalb von zwei Stunden gepackt und ihr Haus verlassen haben sollten. Ihr Haus, das seit Generationen im Besitz der Familie war. Wohin sie gebracht würden, sagte man ihnen nicht. Sie sollten aber unterschreiben, dass sie „freiwillig“ wegzögen.

Familie Bauer sollte in jener Frühsommernacht vor 60 Jahren aus Streufdorf in Südthüringen umgesiedelt werden. Wie acht weitere Familien aus dem 1400-Einwohner-Örtchen auch. Wie mehr als zehntausend Menschen, die im innerdeutschen Grenzgebiet wohnten und deshalb nach einem Ende Mai 1952 ausgemachten Plan der DDR-Führung von dort verschwinden mussten.

Aber in Streufdorf war alles anders: Das Örtchen leistete als einziges offenen Widerstand gegen die Aktion. Doch sollte das gemeinsame Aufbegehren auch das Ende der Gemeinschaft werden.

Martin Bauer sitzt auf der Couch im Wohnzimmer seines großen neu erbauten Gehöfts, zu dem moderne Maschinenhallen gehören. Er ist ein gedrungener Mann mit scharfen Falten und schütterem Haar, dem man anmerkt, dass er anpacken kann. Über seiner Couch hängt ein Holzschnitt mit einem pflügenden Bauer hinterm Pferd. Aus dem Fenster blickt er über das weite Land. Er hat das veränderte Dorfgefühl deutlich gemerkt, als er nach der Wende aus Bayern zurückkam nach Streufdorf. „Lump“ hätten ihn manche geschimpft, und Neider habe es gegeben. Erst 15 Jahre nach der Wende hat er sein einstiges Land zurückerhalten und das Haus, das nur noch eine Ruine war.

Dabei hatten in jener Nacht vor 60 Jahren alle füreinander eingestanden, als kleines Dorf gegen eine Staatsmacht, die zu ihrer groß angelegten „Aktion Ungeziefer“ geblasen hatte. „Aktion Ungeziefer“ – ein Name wie aus dem Wörterbuch der Unmenschen. Das war der Tarnname der Zwangsumsiedlung zur „Festigung“ der innerdeutschen Grenze: neun Jahre vor dem Mauerbau um West-Berlin und der endgültigen Abriegelung der Grenze zur Bundesrepublik mit Stacheldraht, Todesstreifen und Minenfeldern. Ganze Ortschaften wurden ausgelöscht, weil sie zu nahe an der Grenze waren. Streufdorf war rund sechs Kilometer vom Westen entfernt.

Wie sich herausstellte, waren es in Streufdorf vor allem die Wohlhabenden, die auf der „Ungeziefer“-Liste standen, auch weil sie als Gegner der Kollektivierung galten: der Fabrikbesitzer, Geschäftsleute oder eben der „Großbauer“. Über das Wort kann Martin Bauer nur lachen; 22 Hektar bewirtschaftete die Familie – heute hat er 300 Hektar unter dem Pflug.

Er erzählt, wie es damals in Streufdorf zuging. „Wir gehen nicht“, habe der Vater gesagt, statt das Freiwilligkeitspapier zu unterschreiben. „Wir haben doch nichts verbrochen.“ Auch andere weigerten sich, wie der damalige Bürgermeister Fritz Pfeifer von der CDU, der zugleich dafür sorgte, dass andere Dorfbewohner informiert wurden. Pfeifer war eine jener vom SED-Ministerrat als „politisch unzuverlässig“ eingestuften Personen, eins der „Elemente, die weg müssen“, wie die Polit-Funktionäre im Jargon der ideologisch aufgeheizten Endzeit der Stalin-Herrschaft formulierten. So steht es in den Akten.

Innerhalb kürzester Zeit sprach sich trotz der frühen Stunde in Streufdorf herum, dass Familien „abgeholt“ wurden. „Abgeholt“ war ein Schreckenswort, wie auch „Sibirien“, woran damals jeder dachte, als Menschen und deren Habe auf die Pritschen der Lkw gehievt wurden. Aufgeschreckt liefen im Morgengrauen alle Bauern auf die Straße, der Lehrer alarmierte seine Schüler, und die Kindergärtnerin hat auf dem Kirchturm die Glocken geläutet. Mehr als 350 Streufdorfer, notierte die Stasi, beteiligten sich am spontanen Widerstand.

Mit dabei war auch Karl Westhäuser, damals 16 Jahre alt und Schneiderlehrling. Er erinnert sich gut an jenen Tag. „Die Vopos standen mit Waffen auf den Trittbrettern der Laster, konnten aber gegen die vielen Menschen nichts machen“, erzählt er.

Auf dem Marktplatz wurden den Polizisten die Gummiknüppel entrissen und sie selbst damit verprügelt; auch die entsandten „Aufklärer“ der Partei bezogen Schläge. Die Lastwagen wurden blockiert, auf denen wie zum Hohn die Parole stand: „Wir kämpfen für Frieden und Demokratie“. Machtlos mussten die Volkspolizisten zuschauen, wie die Streufdorfer Baumstämme auf die Straßen rollten, um die Abfahrt der Lkw zu blockieren. „Elemente“, so heißt es im Bericht der Staatssicherheit, hätten mit „Ackerwagen, Ackergerät, Holzvorräten usw. Straßenbarrikaden errichtet am Dorfbrunnen“. Die Kinder schauten zu, wie meterhohe Wegsperren gebaut wurden, Jugendliche luden die aufgeladenen Möbel wieder von den Lkw ab.

Es ist der einzige offene Volksaufstand in der DDR vor dem 17. Juni 1953. Doch der Sieg der Streufdorfer währte nur wenige Stunden. Die SED-Führung schickte rund 500 Volkspolizisten mit Wasserwerfern und einer Reiterstaffel nach Streufdorf. Der Ort wurde umstellt. Auch die „sowjetischen Freunde“, so der Stasi-Bericht, bezogen in der Nähe von Streufdorf Stellungen zum „Schutz der Grenze“, ohne jedoch direkt einzugreifen. Bauer erinnert sich noch, wie ein sowjetischer Offizier drohte, „Streufdorf zu liquidieren“. Wasserwerfer wurden eingesetzt, die kasernierte Volkspolizei schlug eine Bresche in die Barrikade, bevor die berittenen Einheiten in die Menge galoppierten und mit Gewehrkolben auf die Menschen einschlugen. „Denkt an den Film ,Das verurteilte Dorf’ “, rief Bürgermeister Pfeifer noch, als der Wasserwerfer ihn von der Barrikade fegte.

Der Defa-Film bekam so eine Rolle, die etwas anders war als von der Propagandaabteilung der SED beabsichtigt. In dem Film wird erzählt, wie sich ein Dorf in der Bundesrepublik gegen die angedrohte Vertreibung zugunsten eines amerikanischen Truppenübungsplatzes zur Wehr setzt. In Streufdorf nahmen die Menschen dies als Ermutigung zur Selbstbehauptung gegen die DDR-Diktatur.

Als die Staatssicherheit den Film noch am selben Tag verbot, war Martin Bauers Vater schon abtransportiert. Er verschwand für fast fünf Jahre im Zuchthaus. Auf dem Lastwagen saß er zusammengekettet mit Karl Westhäuser. Der war gleich mitverhaftet worden, weil er mit dem SED-Kreissekretär diskutiert hatte über das, was da gerade geschah in seinem Heimatdorf. „Das ist der Hauptrabauke“, hatte der SED-Funktionär gerufen und auf ihn gezeigt.

„Rabauke“, das Wort kann Karl Westhäuser 60 Jahre später immer noch aufregen. „Ich war doch ein Junge“, sagt er entrüstet; alle nannten ihn nur den „Kaufmanns-Bubi“, weil sein Vater den Kolonialwarenladen im Dorf führte, das alteingesessene Geschäft, vom Großvater gegründet, in dem es alles gab.

Böse Erinnerungen hat auch Martin Bauer vom Ende des Aufstands. Stundenlang saßen der 13-Jährige und sein Zwillingsbruder vor Männern, die mit Maschinenpistolen im Anschlag auf die Kinder zielten, bevor die anderen Verhafteten später auf Lkw geschafft wurden.

Von dort aus hat Karl Westhäuser einen – wie er dachte letzten – Blick auf sein Dorf geworfen. Doch er hatte Glück und kam nach drei Tagen in der Stasi-Zentrale wieder frei. Mit einem Koffer schlug er sich nach West-Berlin durch. Sein Schneiderlehrmeister wurde zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Dem Bürgermeister, dem der SED-Kreischef drohte, „wenn sich dieses Schwein rührt, wird er sofort umgelegt“, gelang Tage später die Flucht. Rund 80 Familien setzten sich nach dem Aufstand nach Westen ab.

Jahrzehntelang wurde der Tag des Aufbegehrens totgeschwiegen. In Streufdorf, in der ganzen DDR. Auch in der Bundesrepublik ist die „Aktion Ungeziefer“ weitgehend unbekannt. Kein Wort davon wurde in der DDR berichtet, kein einziges Foto existiert von diesem spontanen Aufstand. Nur in Protokollen der Volkspolizei gibt es selbstkritische Anmerkungen über die „falsche Handhabung“ von Befehlen und „teilweise ungenügende Massenarbeit“. Dabei habe doch „die Aktion verhältnismäßig reibungslos“ begonnen, steht fast erstaunt in einer Konferenznotiz, als das Ministerium für Staatssicherheit und die SED-Kreisleitung den Aufruhr analysierten.

Die tabuisierten Ereignisse haben im Dorf ihre Spuren bis nach der Wende hinterlassen. Heute erinnert in Streufdorf im „Zweiländermuseum Rodachtal“ eine Tafel an den Tag. Zum Gelände des Museums hat Karl Westhäuser eine eigene Parzelle beigesteuert, auch wenn ihm die Rückkehr in die Heimat nicht leicht gemacht wurde.

Mehr als zehn Jahre hat es nach dem Mauerfall gedauert, bis er die Häuser der Familie zurückbekam. „Ihr müsst nicht wiederkommen“, hat er sich in Streufdorf angehört. Auf dem Grundbuchamt wurde er abgekanzelt, sein Elternhaus sei „Eigentum des Volkes“, bei der Bank bekam er zu hören, „Illegalen“ würden keine Auskünfte über alte Konten erteilt. Selbst im Einigungsvertrag waren die Zwangsumgesiedelten vergessen worden.

Im längst restaurierten Örtchen erinnert nichts mehr an die DDR. Der Kolonialwarenladen, an dessen Fassade früher ein Schild hing, an dem täglich zu lesen war, ob es Bismarck-Hering gebe oder anderes, ist nur noch zu ahnen, und an der stillen Dorfstraße rund um den frisch geputzten Dorfbrunnen ist kaum vorstellbar, dass sich hier die Volkspolizei der DDR eine Schlacht mit den Dorfbewohnern lieferte.

Weder Bauer noch Westhäuser haben bereut, dass sie zurückgekehrt sind. „Letzten Endes bin ich froh“, sagt Bauer, „wieder in der Heimat zu sein.“ Das ist das kleine Örtchen Streufdorf, das unversehens Schauplatz von Weltgeschichte wurde, für ihn immer geblieben.

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